Lichtschwester
linken Ohr, und von ihrem rechten Ohr baumelte ein goldener Mond. Sie hatte blaue Augen, braunes Haar und ein energisches Kinn. Sie war nach ihrer Geburt beim Orden in Harkady in Pflege gegeben worden und hatte die recht ereignislosen ersten zwölf Jahre ihres Lebens mit Kochen und Putzen und Botengängen für die Ordensoberen verbracht. Dieser Orden hatte einst einer Gottheit gedient, deren Namen inzwischen in Vergessenheit geraten war. Er nahm nun, wegen ihres Geschicks für seine anspruchsvolle Kunst, lieber Frauen als Männer auf, und als Coelli älter wurde, war es ihr großer Wunsch, daß man sie zum Bleiben auffordere. Darum bat der Orden ja nicht alle Pfleglinge. Er bekam alljährlich viele Säuglinge anvertraut, weil er sie ernährte und aufzog, und schickte alljährlich Kinder fort, die ihm untauglich erschienen. Andere lehnten das Angebot zu bleiben ab, weil die Ordensregeln streng und hart waren.
Aber an Coelli Lightfoot entdeckten die Oberen von Jahr zu Jahr mehr Talente und Tugenden. Sie wuchs in einer Welt schweigsamer, arbeitsamer Männer und Frauen auf, und als sie zum erstenmal ihre Tage bekam, rief der Chef-Buchmaler sie in sein Studierzimmer und fragte, ob sie gewillt sei, ihre Reihen zu verstärken . .. Er sagte ihr nur, was sie bereits wußte - daß sie die Geheimnisse, die ihr anvertraut würden, nicht verraten dürfte und keine anderen Kinder haben könnte als die, die bald aus ihrer Hände Arbeit hervorgehen würden.
Aber Coelli wünschte sich kein anderes Leben als dieses, und so verabreichte man ihr die Droge, die mit ihren Tagen ein für alle Male Schluß machte, und begann, sie in den Künsten des Ordens zu unterrichten.
In der Zurichtung des Pergaments. Im Mischen der Pigmente und im Ausglühen des Golds. Im Destillieren der Tinte, Zuschneiden der Federkiele und Pinsel sowie in allen anderen Feinheiten der hohen Kunst des Buchmachens.
Und als sie alles gelernt hatte, was ihre Lehrmeister sie lehren konnten, begab sie sich ans Werk.
Coelli Lightfoot stellte Bücher her. Bücher, die Abschriften von Wachs- oder Tontäfelchen oder von zerlesenen, uralten Originalen waren, auch Mehrfachkopien besonders gefragter Werke, so daß man statt einem dann zwei, drei oder fünf Exemplare hatte -die alle gleich und doch so unterschiedlich wie jene Hände waren, die sie geschrieben hatten. Und wenn ihre Arbeit endlich getan war - die Pergamentseiten beschrieben, illuminiert und an den Lederrücken angenäht, die Buchdeckel gefertigt und je nach Rang und Reichtum des jeweiligen Kunden verziert, die Schnallen und Schließen fest geschlossen waren -, konnte sie sich sagen: Ohne mich würde dies hier nicht existieren. Und in diesem Sinne mangelte es ihr nicht an Kindern. Fünf Jahre später trug Coelli dann die Schildpatt-federbüchse der Gesellin am Gürtel, und sie machte weiter. Und wieder fünf Jahre später erhielt sie die fein mit Silber eingelegte Lackbüchse der Schreiberin, und man bat sie wieder zu bleiben. Als sie aber ihre Kunst weitere fünf Jahre ausgeübt hatte und nun endlich die mit dicken Bernsteinperlen verzierten, dunkelroten Seidenquasten der Meisterilluminatorin von ihrer Federbüchse baumelten, war es Zeit für sie zu gehen.
Denn das Ordenshaus bot nur für wenige Platz, und die Jungen und Starken und Begabten mußten in die weite Welt hinaus, um für den Orden und sich Reichtümer zu erwerben. So nahm Coelli Lightfoot im siebenundzwanzigsten Lenz ihres Lebens ihr Meisterstück unter den Arm und begab sich zum Heuermarkt vor den Toren der Stadt, um festzustellen, wer denn an den Diensten einer Meisterbuchmalerin aus der Ordenswerkstatt zu Harkady interessiert sei.
Haushofmeister Meule war ein Mann mit eiskalten Augen, der seinen Blick so zwischen ihr und ihrem Buch hin und her schweifen ließ, daß sie geschworen hatte, er werde zu guter Letzt noch die Farben ihrer schönen Initialen verwischen. Dem Markttratsch zufolge kam er aus einem Großen Haus mit Namen Windwalls, das hoch im Gebirge jenseits der Wüste lag. Aufgrund all der Fragen, die er zu ihrem Können stellte, war Coelli Lightfoot sich sicher, daß er jemanden suche, der einem Großen Scriptorium mit vielen Schreiberinnen und Schreibern vorstehen könne. Meister Meule war einer von denen, die weder ein Ja noch ein Nein über die Lippen bringen, zählte jedoch ihrem Orden genügend gutes Rotgold hin, um Coelli mitnehmen zu können, ohne einen einzigen Fetzen Pergament unterschrieben zu
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