Lichtspur
dich ein bisschen.«
Li überflog die Berichte und hielt hier und da inne, als ein Name oder ein Wort ihre Aufmerksamkeit erregte.
02/01/47. Stokes, William. Alter 32. ID-Nr. 103479920. Subjekt tödlich verletzt, als er zu Wilkes-Barre Nord 4 zurückkehrte, um eine fehlende Sprengladung zu überprüfen. Keine Autopsie. Todesursache: Verbrennungen.
04/12/47. Pinzer, G. F. Alter 26. ID-Nr. 457347423. Subjekt in der unteren Gallerie Wilkes-Barre Süd 14 entdeckt, von eingestürzter Decke zerquetscht. Retter waren wegen Gaslecks nicht in der Lage, die Leiche zu bergen. Subjekt wurde nach persönlichen Eindrücken und Einsatzprotokoll identifiziert. Todesursache: Schock.
04/19/47. Mafouz, Christina. Alter 13. ID-Nr. 764378543. Kohlekarren der Person hatte im Gang westlich von Wilkes-Barre Ost 17 einen Bremsschaden. Die Person erlitt mehrfache komplizierte Knochenbrüche und Verrenkungen sowie Verletzungen der Weichteile. Linkes Bein wurde unterhalb des Knies amputiert, St. Johns Krankenhaus.
Diese Einträge waren für Li keine Neuigkeiten. Sie verzeichneten Todesfälle und Verletzungen durch Feuer, Explosionen, Deckeneinbrüche, Geräteversagen. All die routinemäßigen Gefahren in der Welt der Bergleute.
Aber verstreut unter den typischen Unfallberichten fand sie andere:
17/20/47. Carrig, Kevin. Alter 37. ID-Nr. 355607534. Person in Trinidad Süd 2 bewusstlos aufgefunden. Grubeninspektor vermutet, Subjekt habe Gastasche geöffnet, aber Retter fanden keine Spuren von Gas am Arbeitsplatz; Autopsie konnte keine Inhalation von Gas nachweisen. Todesursache: unbekannt.
20/2/48 Cho, Kristyn. Alter 34. ID-Nr. 486739463. Person brach bei Inspektion in Trinidad Süd zusammen. Zeugen zufolge hat die Person über Kopfschmerzen, helle Lichterscheinungen, Krämpfe, Bewusstseinsverlust geklagt. Autopsie ergab ausgedehnte, nicht örtlich begrenzte Verletzung des Frontallappens. Todesursache: Gehirnschlag.
Die rätselhaften Vorfälle traten seit vier Monaten auf. Todesfälle, die einem Stromschlage zugeschrieben wurden, obwohl die Reparaturmannschaften keine freiliegenden Leitungen oder stehendes Wasser entdeckt hatten. Todesfälle, die Gas zugeschrieben wurden, obwohl andere Bergleute, die im selben Gang gearbeitet hatten, auf mysteriöse Weise verschont geblieben waren. Gesunde Bergleute, die an Herzschlägen, Schlaganfällen, Gehirnverletzungen starben. Und zwei Bergleute, die zwar nicht gestorben waren, aber immer noch im Krankenhaus von Shantytown im Koma lagen, ohne dass die Ärzte ihren Zustand erklären konnten.
Unerklärliche Unfälle dieser Art hatten sich gehäuft, als der Trinidad-Stollen eröffnet worden war. Danach pendelte es sich wieder ein. Vor drei Monaten war eine weitere auffällige Häufung eingetreten: Vierzehn unerklärliche Todesfälle in nur einer Woche.
Li musste einen Quervergleich der Daten vornehmen und ihre Dateien konsultieren, um herauszufinden, was vor drei Monaten geschehen war.
Sharifi war eingetroffen.
»Rate mal, von wo aus die Berichte gelöscht wurden?«, fragte Cohen, hob eine schmale Augenbraue und schob ihr
einen noch lesbaren Rest eines gelöschten Zugriffsprotokolls zu. »Aus dem Büro des Stationsleiters.«
»Haas hat die Unfallberichte also am Tag vor meiner Ankunft beseitigt.«
»Und er hat Kristalle unterschlagen, zumindest vermuten wir das.«
»Und«, fügte Li hinzu, obwohl sie sich dabei etwas mies vorkam, »wir wissen, dass Haas den Syndikaten nicht gerade übel gesonnen ist.«
Sie sahen sich gegenseitig an.
»Es deutet alles auf Haas hin«, sagte Li. »Oder sehe ich das falsch?«
Statt zu antworten, verschwand Cohen.
Li stand schwankend auf und stieß ihren Stuhl um. Ihre Kabine sah irgendwie verkehrt aus. Sie überprüfte ihre Implantate und stellte fest, dass sie sich nicht mehr im eingeschränkten VR-Interaktionsmodus befand, sondern in uneingeschränkter Zweiweg-Interaktion.
Sie versuchte den Realraum zu erreichen.
Nichts.
Code.
Nichts.
Sie war eingesackt, auf Eis gelegt, in einen virtuellen Nullraum befördert worden. Sie schloss die Augen, rieb sich das Gesicht und dachte nach. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie nicht mehr in der Orbitstation.
Sie stand in einem perfekt quadratischen, völlig leeren Raum. Nackte weiße Wände. Nackte Böden und Decken. Rechteckige, fensterartige Öffnungen, die auf ein endloses weißes Nichts hinausgingen. Ihr Herz hämmerte in der Stille wie eine Kesselpauke. Sie konzentrierte sich
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