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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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stoßen.
    »Heiß, was?«, sagte Haas, als er sah, dass sie sich die Stirn abwischte. »Hier unten steigt die Temperatur um anderthalb Grad pro dreißig Meter unter Referenzhöhe. Ich schätze mal, es sind hier, äh, um die vierzig Grad.«
    »Einundvierzig, um genau zu sein.«
    Haas schnaubte. »Verjubelt der Rat dafür heutzutage Steuergelder? Für Thermometer?«
    Li hatte vergessen, wie es war, sich unter Tage zu bewegen. Auf den ersten zehn Metern stieß sie sich den Kopf an, kratzte sich den Rücken auf und stolperte über einen Stapel von losem Schiefer. Dann verfiel sie in die halb vergessene Gangart eines Bergarbeiters, beugte Knie und Hüfte und strich mit einer Hand die Decke entlang, um niedrige Stellen zu erkennen, bevor sie dagegenstieß. Die Leichtigkeit, mit der ihr Körper in die alte Haltung zurückfand, erschreckte sie.
    Die Überflutung hatte in jeder Senke und jedem Hohlraum der Kohleader Pfützen von stehendem Wasser zurückgelassen. Teefarbenes Wasser lief in dünnen Rinnsalen die Wände herunter, so mit Schwefel angereichert, dass es wie Säure auf der Haut brannte. Die Leichen waren weggeschafft worden, aber der dicke, süßliche Geruch des Todes hing noch in der Luft, verstärkt durch die Kadaver ertrunkener Ratten, die überall in nassen Knäueln herumlagen. An jeder kleinen Biegung und auf jedem Felsvorsprung schien eine Spur ausgelöschten Lebens zurückgeblieben zu sein. Eine Lunchbox hier. Eine zertrümmerte Grubenlampe dort.
    Während sie weitergingen, hielt der Sicherheitsoffizier einen kurzatmigen Vortrag über die außergewöhnlichen
Sicherheitsvorkehrungen, die die ABG im Trinidad-Stollen getroffen hatte. Er sprach in einem nervösen Singsang, zitterte unter Haas’ Blick wie ein eifriger Student. Li hatte keine Ahnung, ob er wirklich an das glaubte, was er da sagte. Sie horchte, saugte rhythmisch an der Filtermaske ihres Beatmers und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass ihr Überleben jetzt von den knirschenden, quietschenden Deckenbolzen abhing und der Fähigkeit von sechshundert Bergleuten, einen vernünftigen Sicherheitsabstand um die Schnittkante einzuhalten.
    Der Ort des Geschehens selbst war alles andere als spektakulär. »Da sind wir«, sagte Haas, und hier waren sie: ein abgestütztes, mit Schutt übersätes Tunnelstück, das in einer Kammer endete, deren flankierende Säulen wenig mehr waren als Stapel von Felsblöcken.
    »Also, was ist passiert?«, fragte Li den Sicherheitsoffizier.
    Haas antwortete an seiner Stelle. »Bei einer Stichflamme weiß man das nie. Der eine baut anderthalb Tonnen erstklassiger Kristalle ab und geht hinterher ohne eine Schramme nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern. Der Nächste hat die Ader nur mal angekratzt, und das ganze Bergwerk stürzt über ihm zusammen. Jeder Bergmann hat seine eigenen Theorien – von den bescheuerten Grubenpriestern ganz zu schweigen –, aber eigentlich sind das alles nur Vermutungen.«
    »Sind Sie sicher, dass es eine Stichflamme war und nicht ein gewöhnliches Kohlefeuer?«
    »Das ist genauso unsicher wie alles andere.«
    Die Kammer war breit, maß vielleicht zwölf Meter im Durchmesser, was bei den zusammengestürzten Säulen und Balken allerdings schwer zu schätzen war. Es sah so aus, als sei ein ganzer Vorsprung des Stollens freigelegt worden, um Sharifis Team mehr Bewegungsraum zu verschaffen.
Oder als habe ein besonders reiches Kristallvorkommen die Bergleute dazu verleitet, eine zentrale Säule zu entfernen und damit zwei separate Kammern in eine einzige zu verwandeln – ungeachtet der bekannten Risiken, die mit dem Entfernen von Säulen einhergehen.
    Das Feuer hatte die obere Kohleschicht von den Wänden gebrannt und die langen Kanten der Kondensatlager enthüllt, glatter und kristalliner als die Kohle ringsum. Li berührte eins der entblößten Kondensate. Es fühlte sich glatt poliert an und strahlte Wärme wie ein lebendiger Körper aus. Sie spürte das schwache, vertraute Zerren in ihrem Hinterkopf.
    Sie wandte sich wieder Haas und dem Sicherheitsoffizier zu. »Gibt’s sonst noch etwas, das ich sehen sollte?«, fragte sie und beobachtete Haas in Infrarot.
    »Das war’s«, sagte er, und sein Puls beschleunigte sich dabei.
    »Was ist mit Ihnen?«, wandte sie sich an den Sicherheitsoffizier.
    Er beschränkte sich auf einen ahnungsvollen Blick in die unbeleuchteten Tiefen der Kammer.
    Li ging zu der Ecke, in die er geschaut hatte, und sah etwas, das ihr schon vorher hätte auffallen müssen:

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