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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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auf der Erde leben können – natürlich nicht wir alle, aber ein paar glückliche Auserwählte, die das Wagnis eingehen wollen.« Sie machte eine Pause und lächelte die Kinder fröhlich an. »Haben eure Lehrer euch von der Erde erzählt?«
    Warum sollte es die Kinder interessieren, dachte Li. Es war nicht ihr Planet. Diese Kinder waren im Weltraum geboren, so wie ihre Eltern und ihre Großeltern. Sie hatten die Erde nicht heruntergewirtschaftet oder die Entstehung der Gletscher bewirkt oder die Evakuierungs- und Embargo-Verträge ausgehandelt. Die Erde war für sie nur einer von vielen Monden im Sonnensystem: ein hübscher Lichtfleck am Nachthimmel, ein exotisches Reiseziel. Aber als Li sich umschaute, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Kinder gebannt zuschauten, wie die glitzernden Eismassen über den Äquator wirbelten. Außer ein paar Jungen im Hintergrund natürlich, die die mit Bogen bewaffneten Jäger in den Aboriginal-Lifestyle-Hologrammen nachahmten und so taten, als zielten sie mit imaginären Pfeilen auf Taubenschwärme, begierig zu erfahren, welche Verstümmelungen ihre Waffen anrichten konnten. Li, die als Kind selbst zu den Hinterbänklern ihrer Klasse gehört hatte, musste grinsen.
    Als die Dozentin ihre Standardphrasen über ein neues strahlendes Zeitalter des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit abspulte, ging Li weiter. Sie konnte selbst aus dieser Höhe bis auf die Planetenoberfläche sehen und alle noch schwelenden heißen Stellen erkennen. Irland. Israel. Die eisige Festung der nördlichen Rocky Mountains.
Das Eis mochte die Grenzen verwischt haben, aber dort unten wurden immer noch die alten Kriege ausgefochten, auch wenn die UN Unsummen ausgegeben hatte, um sie zu beenden. Und die alten Gegner schürten zu Hause immer noch die alten Feuer, damit sie dort weitermachen konnten, wo sie aufgehört hatten, wenn die UN es endlich schaffte, den Planeten wieder bewohnbar zu machen. Li hatte selbst eine Generation zorniger junger Männer und Frauen erlebt, die aus dem irischen Viertel von Shantytown verschwunden und ein paar Jahre später – wenn überhaupt – zurückgekehrt waren, um Geschichten über die Straßenkämpfe in Dublin und Ulster zu erzählen, über Absprachen zwischen der UN und den Engländern, über intelligente Neurowaffen der Embargo-Division. Zum Glück war Li erst nach dem Krieg der ED zugeteilt worden; es gab einige Dinge, die nicht einmal sie schlucken konnte.
    Sie schlängelte sich zwischen den Kindern hindurch und wich dem Nachmittagsverkehr aus, um eins der vielen Straßencafés auf dem Zócalo zu erreichen. Sie setzte sich an einen der hinteren Tische. Ein guter Tisch, nach ihrem Standard: ein Tisch mit einer stabilen Wand hinter ihr und mit klarer Sicht auf alle Ankommenden.
    Drei chicas buenas wandten sich von ihren geschäumten matés de coca ab, um sie anzusehen. Ihre langen Haare waren mit Goldfäden durchflochten und zu kunstvollen fächerartigen Haarknoten nach der aktuellen Mode hochgesteckt. Mit ihren schwarzen Maya-Augen und bunt bemalten Gesichtern sahen sie wie Chimären aus der Menagerie eines Cyberkünstlers aus. Li betrachtete sie einen Moment und kam zu dem Schluss, dass diese aufgetürmten Haare noch dämlicher waren als die meisten anderen Moden. Diese chicas buenas nahmen Lis militärischen Haarschnitt und ihre Ripstop-Kleidung aus UN-Beständen mit einem kühlen Blick zur Kenntnis, runzelten die Stirn
über ihr Konstruktgesicht und wandten sich wieder ihrem Geplauder zu. Dies hier war die Zone. Nicht einmal ein Konstrukt in der Uniform eines Friedenssoldaten konnte hier jemanden überraschen.
    Li trank im gefilterten Sonnenlicht ihren Kaffee, blickte zur blau-weißen Wölbung der Erde hoch und dachte darüber nach, was zum Teufel sie Cohen sagen sollte.
    Die Sache mit Metz stank bis zum Himmel, wie man es auch betrachtete. Und statt stolz darauf zu sein, dass sie knapp einer Katastrophe entronnen war, empfand Li nichts als Wut auf Soza, die Frechheit des Sicherheitsrats und vor allem auf Cohen. Vier Friedenssoldaten waren erschossen worden. Li hatte einen Zivilisten getötet, was ihr nach all den Jahren immer noch den kalten Schweiß ausbrechen ließ, ganz unabhängig davon, dass der fragliche Zivilist bewaffnet gewesen war und auf sie gezielt hatte. Und das alles war geschehen, weil sie Cohen vertraut – und er sie im Stich gelassen hatte.
    Das Problem mit Freunden war, dass man sie nicht loswerden konnte. Es gab keine

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