Liebe 2.0
weiter suchen, die Zeit rinnt mir davon - - - und
ich wache wieder auf.
Ein drittes Mal
gehe ich diese verfluchte Straße entlang, gefangen in einer Endlosschleife, die
schlimmer ist als jeder Murmeltiertag. Und schon erblicke ich das Haus, gehe
die unausweichlichen Stufen hoch, klopfe und harre der Dinge, die da kommen.
Da geht auch
schon die Türe auf, und Astrid empfängt mich mit einem herzlichen Lächeln. „Julia,
komm rein, wir haben schon auf dich gewartet!“
Ich zögere, ehe
ich eintrete, denn was ich sehe, ist zu sonderbar: Astrid ist furchtbar alt
geworden. Ihre blonden Haare sind ergraut und zu einem Dutt aufgesteckt. Sie
trägt eine Kittelschürze wie Else Kling aus der Lindenstraße . Und sie
ist allem Anschein nach tatsächlich irgendwann im Shakers eingezogen:
Als sie vor mir her ins Wohnzimmer wackelt, erkenne ich dort den Tresen, an dem
wir den Viggo-Kellner angeschmachtet haben, und die Sitzecke, in der Max mit
seinen Freunden den Junggesellenabschied gefeiert hat. Und als ich jetzt zur
VIP-Lounge rüber sehe, sitzt dort ebendieser Max in einem bequemen
Schaukelstuhl und nickt mir freundlich zu. Auch er ist alt geworden. Aber genau
wie Astrid sieht er zufrieden aus. Entspannt. Gelebt. Man merkt, dass die
beiden auf etwas zurückblicken können. Gemeinsam.
Wieder muss ich erkennen, dass das hier nicht mein Haus ist. Dass ich nur
ein Gast bin, außen vor, eine Zeitreisende ohne Heimathafen. Wieder ergreift
dieses unruhige Kribbeln von mir Besitz – ein Kribbeln, das in Wahrheit
wahrscheinlich auf meinen überreizten Magen, in dieser Welt jedoch auf die pure
Verzweiflung zurückzuführen ist. Und ehe ich auch nur ein Wort mit Max wechseln
kann, wache ich schon wieder auf.
Mit bleischwerem Körper schleppe
ich mich in die Küche, hole mir eine neue Flasche Wasser ans Bett, trinke sie
zur Hälfte leer – und ergebe mich weiter der Folter. Um es kurz zu machen: Ich
versuche in dieser Nacht vergeblich, den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Ort
und die richtige Tür abzupassen. Ich lande bei meinen Eltern als frisch
verliebtem Studentenpaar, bei Jonas’ Vorabifete… ja, sogar bei Herrn Ströwel
und der schriftlichen Division für Drittklässler. Aber niemals komme ich dort
an, wo ich hingehöre. Keine Chance.
Einundvierzig
Es ist der 24. Dezember, gegen 10
Uhr morgens. Bin ich gestern noch mit dröhnendem Schädel und umgestülptem Magen
aufgewacht, fühle ich mich heute, sechsunddreißig Stunden nach Thomas’
höllischem Wunschpunsch, wie neugeboren. Eine Alkoholvergiftung als
Verjüngungskur? Das klingt zunächst paradox. Aber es ist faszinierend, wie
großartig es einem geht, wenn man vorher so richtig gelitten hat. Es ist halt
stets am schönsten, wenn der Schmerz nachlässt…
Selig will ich
mich gerade auf die andere Seite wälzen, als die Stimme meiner Mutter ertönt. „Julia,
steht endlich auf! Wir wollen gemeinsam frühstücken!“
Die Pflicht ruft. Für die kommenden drei Tage wird nur noch gegessen und
getrunken. Merry Christmas!
Als ich die Treppe herunterkomme,
sitzen sie schon alle erwartungsvoll am Esstisch, und begierig sauge ich das
Duftgemisch aus Tannenzweigen, Bienenwachskerzen und Kaffee ein.
Familienfrühstück ist schon was Feines, erst recht im Advent! Als wären wir
noch Kinder, liegt auf jedem Teller ein kleiner Schokoladenweihnachtsmann, und
mitten auf dem Tisch steht der große tönerne Engel, dessen stimmungsvoll
flackerndes Windlicht bislang jedes meiner Weihnachtsfeste erhellt hat. Sein
weißes Kleid ist mit den Jahren immer rußiger geworden, und die eine oder
andere Macke hat er auch abbekommen. Aber selbst an Engeln geht die Zeit nun
einmal nicht spurlos vorüber. Und das ist doch eigentlich nur fair.
„Wie sieht die
Planung für den heutigen Tag aus?“, frage ich und kenne die Antwort doch
eigentlich genau. The same procedure as every year . Aber meine Eltern
gehen gerne auf das Spiel ein, denn irgendwie gehört auch das jedes Jahr dazu.
„Ob ihr es
glaubt oder nicht“, beginnt mein Vater, „aber zuerst werden wir hier aufräumen.
Dann holen Tristan und ich die Kisten mit dem Baumschmuck aus dem Keller, derweil
eure Mutter noch dreimal in die Stadt fährt, weil sie stets irgendetwas anderes
vergessen hat…“
„Ha, ha“, sagt
Mama. Aber mein Vater redet schon weiter.
„Danach schmücken
wir gemeinsam den Baum und stellen die Krippe auf. Dann macht eure Mutter das
Abendessen, während wir anderen Julia davon abhalten, dem Herd zu nahe
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