Liebe 2.0
Glück mit Trauer
erkauft zu sein scheint – hebt sich dann nicht schlussendlich alles auf? Ist
das Leben nicht eigentlich ein Nullsummenspiel, an dessen Ende sowieso alles
egal ist? Jonas und Julia gibt es nicht mehr, soviel steht fest. Und wir haben
es zugelassen. Wir waren uns schon egal, bevor wir dem Universum egal wurden.
Das ist unbefriedigend. Frustrierend. Das Ende unserer Beziehung ergibt
definitiv keinen Sinn.
Womit wir wieder
bei meinem Egger-Interview wären. Denn so perfekt mir meine Beziehung mit Jonas
bisher erschien, so muss ich doch jetzt feststellen, dass sie alles andere als
Bestseller-Qualitäten hatte. Kein Autor würde sich hinsetzen und etwas derart
Ereignisloses niederschreiben. Kein Regisseur würde ein Skript verfilmen, in
dem zwei Stunden lang nichts passiert und dann der Abspann in Schönschrift
verkündet: The End . Hollywoodtaugliche Liebe sieht anders aus. Was
paradox ist, denn wieso wird eine Liebesgeschichte besser, je mehr Leid sie
beinhaltet? Wieso zählen die paar Tage, die Kate und Leo auf der Titanic hatten, mehr als unsere zehn bis zwölf glücklichen Jahre, an deren Ende doch
immerhin niemand physischen Schaden genommen hat? Doch wie es aussieht, war
unser Sommer einfach zu lang. Irgendwann nach Wochen voll träger Behaglichkeit
hat auch das leckerste Banana-Split seinen Reiz verloren, und die Sangria
verursacht Sodbrennen. Dann muss es weitergehen, sonst verwandelt sich der
wolkenlose Segen in einen Fluch: Dürre, Waldbrände, Hitzschlag… Und so sind
Jonas und ich eines Tages matt wie die Fliegen auf der Strecke geblieben. Kein
Herbst, kein Winter – und damit auch keine Chance auf einen neuen Frühling,
weder für die alte, noch für eine neue Liebe. Und genau diese Erkenntnis macht
mir Angst. Sie fasst mit einem Mal in Worte, was ich bereits die ganzen letzten
Monate unbewusst mit mir herumschleppe: Ein Sommernachtstrauma. Aber nur, weil man endlich weiß, wie eine Krankheit heißt, bedeutet das noch
lange nicht, dass man sie auch kurieren kann, im Gegenteil. Ich bin ein
hoffnungsloser Fall. Alle meine Sonnenstunden sind restlos aufgebraucht.
Leben birgt
Risiken. Aber gerade die machen es irgendwie auch erst spannend, denke ich. Was
meinen Sie?
Ach, wie ich
diesen Martin Egger beneide! Um seine Lebenserfahrung. Um die Gelassenheit, mit
der er die Bürde der notwendigen Entscheidungen zu stemmen vermag. Wenn ihm
sein Leben nur halb so locker von der Hand geht wie die klugen Worte seine
Lippen verlassen, kann ihn nichts erschüttern.
Ich knipse das Licht an, stehe auf und hole meinen signierten Herbststurm hervor, den ich bereits zu einem Drittel durchgelesen habe. (Auch die letzte
Nacht war recht kurz.) Auf der allerersten Seite steht in künstlerischen
Krakeln: Für Julia; Danke für ein bisschen Frühling im Herbst und die
Aussicht auf neue spannende Entscheidungen. Darunter ein geschwungenes M
und eine Handynummer.In der Tat, unerschütterlich. Doch ich werde ihn
ganz sicher nicht anrufen.
Als ich endlich einschlafe, träume
ich von Wasser. Das tue ich recht häufig, aber im Gegensatz zum klassischen
feuchten Traum machen diese Phantasien selten Spaß. Statt von erotischen
Abenteuern handeln sie nämlich entweder vom Ertrinken oder vom Verdursten, und
nachdem ich mal gelesen habe, dass Wasserträume auf tief liegende Probleme im
Unterbewusstsein zurückzuführen sein sollen, kann mich auch das Erwachen nicht
wirklich beruhigen.
Dieses Mal liege
ich am Strand. Neben mir sitzt Jonas, und meinem Gefühl nach sind wir noch
zusammen. Als ich mich umblicke, erkenne ich auch die Landschaft wieder –
zumindest glaube ich das innerhalb der Traumlogik. Es ist ein Strandabschnitt
auf Ibiza, wo wir während eines gemeinsamen Urlaubes ungefähr 20 Stunden am Tag
verbracht haben. Alles passt: Die Sonne, die Liegen und Schirme, das glitzernde
Wasser, der nervige Melonenverkäufer… Doch plötzlich sehe ich, wie sich das
gleißende Meer mit einem Mal zu einem riesigen Tsunami aufbaut. Er glitzert
immer noch verführerisch, aber mir wird schlagartig bewusst, dass Jonas und ich
das hier nicht überleben werden. Dass wir sterben müssen, und zwar in wenigen
Sekunden. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf – Vergangenheit,
Gegenwart, Zukunft, so wie es im Fernsehen immer von Leuten beschrieben wird, die
ein Nahtod-Erlebnis hatten. Ich denke daran, dass ich gerne Kinder gehabt
hätte. Dass wir doch eigentlich noch viel zu jung sind. Dass ich mich nicht von
meinen Eltern
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