Liebe 2.0
Rückfallgefahr bei Magersuchtpatienten ist in etwa
vergleichbar mit der eines Alkoholikers oder Heroinjunkies. Wobei es natürlich
darauf ankommt, wie weit man die Krankheit beim ersten Mal getrieben hat. Aber
obwohl ich aus der Sache damals ohne therapeutische Hilfe nicht herausgekommen
wäre, so hatte ich doch über die vergangenen Jahre hinweg genügend
Selbstbewusstsein gesammelt, das mir das Gefühl vermittelte, niemals wieder in
eine solche Situation geraten zu können. Wieso auch? Ich wurde geliebt und
liebte zurück. Ich hatte Ziele, auf die ich hinarbeitete und an denen ich mich
messen konnte. Ich brauchte keine Spielchen, die mich damit köderten, die
absolute Macht zu erlangen, nur um mich alsbald zum Sklaven meiner selbst zu
machen. Schließlich hatte ich das echte Leben – mein Leben. Und
spätestens nachdem mit der Trennung von Jonas mein persönlicher Super-GAU eingetreten
und vorübergegangen war, ohne dass ich zurück in die alten Muster verfallen
wäre, war ich von meiner endgültigen Heilung überzeugt. So überzeugt, dass ich
die ersten Anzeichen einer Wiederkehr nicht wahrhaben wollte. Und ebenso wenig
die zweiten. Doch langsam aber sicher wird es Zeit, mir selber zu beweisen,
dass ich aus dem letzten Mal auch nur ein Fitzelchen gelernt habe. Mir einzugestehen,
dass ich die Inkubationszeit offensichtlich unterschätzt habe, ist dabei noch
die leichteste Übung. Deutlich schwerer wird es dagegen werden, den
Teufelskreis ein weiteres Mal zu durchbrechen. Aber auch das werde ich
schaffen, und zwar ohne einen Retter. Denn das hier ist allein eine Sache
zwischen mir und mir. Und schließlich liebe ich Herausforderungen. Zumindest
habe ich das gerade eben noch behauptet.
Völlig in
meinen Selbstdisput vertieft, habe ich gar nicht bemerkt, dass sich der Himmel
immer mehr verdichtet hat und den gesamten Horizont wie eine kompakte
Eisschicht abdeckt. Erst als es mit einem Mal anfängt zu schneien – zunächst
nur ein paar wenige Flocken, dann schon bald dicke Wattebausche –, blicke ich
verdutzt nach oben in das Gestöber, das aus dem weißen Nichts zu kommen
scheint. Schon als Kind habe ich den ersten Schnee geliebt, und so wie damals
im Garten meiner Eltern stehe ich auch jetzt vollkommen selbstvergessen auf dem
Rondell in meiner Siedlung und fühle, wie sich ein innerer Frieden in mir
ausbreitet. Wer hätte etwa gedacht, dass auch ganz ohne einen Herbst plötzlich
der Winter hereinbrechen würde…?
Zurück in den warmen vier Wänden
und inspiriert von der weißen Flockenpracht vor meinem Fenster, koche ich mir
nach altbewährtem Rezept eine große Portion Milchreis – neben Popcorn eines der
wenigen Gerichte, die auch mir gelingen. Während er aufquillt und meine Wohnung
mit dem Duft aus Kindertagen erfüllt, suche ich mir aus meiner DVD-Sammlung die
passende Tischgesellschaft. Und habe sie bald gefunden: In kaum einer Serie
wird so viel gegessen wie bei den Gilmore Girls , und während der
nächsten drei Stunden sitze ich vor dem Fernseher und esse tapfer immer genau
dann etwas von meinem Teller, wenn die beiden Lorelais voller Genuss Burger, Brownies
oder sonstiges Junk Food in sich hinein stopfen. Es ist fast so wie das Saufspiel,
bei dem man als Teenager immer einen Schluck selbst gepanschten
Gummibärchenschnaps trinken musste, sobald ein bestimmtes Wort fiel. Nur, dass
meine Absichten jetzt edlerer Natur sind – zumindest meiner eigenen Gesundheit
gegenüber.
Auch wenn es nicht
so aussieht: Es ist ein großer Schritt. Und es ist ein schwieriger Schritt.
Mein Bauch wird prall und hart und motzig. Immer wieder bricht mir der Schweiß
aus und ich bekomme Panikattacken. Ich hadere, verzweifele, weine. Eine innere
Stimme behauptet schon nach drei Löffeln, dass es nun genug sei. In falscher
Solidarität mit meinem Körper geht sie sogar soweit, mir zu drohen, dass,
sollte ich weiter essen, es mir noch furchtbar leid tun würde. Doch
glücklicherweise stecke ich noch nicht wieder so tief in der Krankheit drin,
dass ich den gespaltenen Zungen und automatisierten Brechreizen nichts
entgegenzusetzen hätte. Ein Rest gesunden Menschenverstands und eine mühsam
erlernte Körperbeherrschung kämpfen gemeinsam mit mir, um diesen meinen Neuanfang
bestmöglich zu verteidigen. Und auch wenn es fast fünf Folgen Gilmore Girls braucht, so habe ich am Ende doch einen Erfolg zu verbuchen. Zwar weiß ich,
dass ein Topf voll süß-klebrigem Matsch nicht ausreichen wird, mein Leben zu
kitten. Aber Stars
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