Liebe auf den ersten Biss
war fast einen Kopf kleiner als er und reichlich mager. Heute Abend machte sie einen auf Waisenkind, mit zerrissenen, gestreiften Strümpfen und einem leuchtend roten Minirock aus PVC. Ihr Lord-Byron-T-Shirt hatte sie gegen ein Tanktop getauscht, schwarz natürlich, mit der Aufschrift GOT BLOOD?, und Netzhandschuhen, die bis über ihre Ellenbogen reichten. Geschminkt war sie wie eine traurige Clown-Marionette: Schwarze Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie krümmte ihren Zeigefinger, damit er sich zu ihr herunterbeugte und sie ihm bei der wummernden Musik ins Ohr schreien konnte.
»Ich bin Abby Normal.«
Tommy schrie ihr ins Ohr. Sie roch nach Haarspray – und was war das? Himbeeren? »Ich bin Flood«, sagte er. »C. Thomas Flood.« Es war sein Pseudonym. Das C. hatte eigentlich nichts zu bedeuten. Er mochte nur den Klang. »Nenn mich Flood«, sagte er. Tommy war ein blöder Name für einen Vampir, aber Flood – aaah, Flood! … daraus sprachen Kraft und Chaos und ein Hauch Mysterium.
Abby grinste breit wie eine Katze in der Fischfabrik. »Flood«, sagte sie. »Flood.«
Es schien, als probierte sie den Namen aus. Tommy stellte sich vor, dass sie in der Schule einen schwarzen Plastikordner hatte und demnächst mit ihrem eigenen Blut Mrs. Flood auf den Deckel kritzelte, umrahmt von einem Herzchen mit Pfeil. Noch nie hatte er ein Mädchen gesehen, das dermaßen auf ihn abfuhr, und er wusste überhaupt nicht, wie er damit umgehen sollte. Einen Moment lang dachte er an Draculas drei Vampirbräute, die in Stokers klassischem Roman versuchten, Jonathan Harker zu verführen. (Seit er Jody kannte, hatte er sämtliche Vampirgeschichten gelesen, die er in die Finger bekam, da anscheinend noch niemand ein brauchbares Handbuch über Vampirismus geschrieben hatte.) Wäre er drei üppigen Vampirbräuten wirklich gewachsen? Würde er ihnen ein Kind im Leinensack bringen müssen, wie Dracula es im Buch tat? Wie viele Kinder pro Woche musste er ranschaffen, damit sie zufrieden waren? Und wo bekam man solche Leinensäcke? Und obwohl er mit Jody darüber nicht gesprochen hatte, war er doch ziemlich sicher, dass sie nicht begeistert wäre, ihn mit zwei üppigen Vampirbräuten teilen zu müssen, selbst wenn er einen Kindersack nach dem anderen anschleppte. Sie würden eine größere Wohnung brauchen. Mit Waschmaschine und Trockner im Haus, denn da gäbe es eine Menge blutiger Höschen zu waschen. Vampirlogistik war ein Albtraum. Man sollte sich eine Burg und Personal anschaffen, wenn einem spitze Zähne wuchsen. Wie sollte er das alles schaffen? »Das ist doch scheiße«, knurrte Tommy schließlich, überwältigt vom Ausmaß seiner Verantwortung.
Abby sah ihn an, verdutzt, dann etwas gekränkt. »Tut mir leid«, sagte sie. »Wollen wir lieber gehen?«
»Oh, nein. Ich meinte nicht – ich meine, äh, ja. Gehen wir.«
»Soll ich noch Heroin besorgen?«
»Was? Nein, das hat sich schon erledigt.«
»Übrigens haben Byron und Shelley auch Opium genommen«, sagte Abby. »Laudanum. So was wie Hustensaft.«
Aus unerfindlichem Grund sagte Tommy: »Die Schlawiner haben sich gern was reingezogen und dann Gespenstergeschichten auf Deutsch gelesen.«
»Das ist ja so was von cool«, sagte Abby, nahm seinen Arm und schmiegte sich an den Bizeps, als wäre er ihr neuester, treuester Gefährte. Sie zog Tommy zur Tür.
»Was ist mit deinem Freund?«, sagte er.
»Ach, als wir kamen, hat jemand angedeutet, dass sein Umhang irgendwie grau ist, also ist er nach Hause gegangen, um alles wieder schwarz zu färben.«
»Muss sein«, sagte Tommy und dachte: Geht's noch?
Draußen auf dem Bürgersteig sagte Abby. »Vielleicht sollten wir irgendwohin gehen, wo wir allein sind.«
»Sollten wir?«
»Damit Ihr mich nehmen könnt«, sagte Abby und neigte ihren Kopf zur Seite, so dass sie mehr als je zuvor wie eine Marionette ohne Fäden aussah.
Tommy hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Woher wusste sie es? Jeder andere in diesem Club hätte beim »Bist du Vampir?«-Test besser abgeschnitten als er. Es sollte ein Buch geben, in dem so was stand. Konnte er alles abstreiten? Sollte er ganz normal weitermachen? Wie wollte er es Jody erklären, wenn sie neben dem dürren Marionettenmädchen aufwachte? Er hatte Frauen schon früher nie wirklich verstanden, als er noch ein normaler Mann gewesen war und es den Anschein hatte, als müsste man nur so tun, als wollte man keinen Sex mit ihnen, damit sie Sex mit einem hatten, aber ein Vampir zu sein, das brachte
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