Liebe auf den ersten Klick
Männer stehen tatsächlich Schlange, Vivienne, du siehst es nur nicht.«
Niedergeschlagen gehe ich in das kleine Wohnzimmer, das sich direkt neben der Küche befindet. Opas Sessel steht am Fenster. Die Familienfotos auf der Kommode sind von einer Staubschicht bedeckt. Ich nehme eines von Opa in die Hand und wische es mit dem Ärmel ab. Er trägt einen Panamahut und lächelt in die Kamera. »Lawrence 2009« steht darauf; das Jahr vor seinem Tod. Es gibt auch einige von mir: mit sieben, als ich hier abgegeben wurde – im Schlafanzug und mit der festen Absicht, mich nie wieder abzuholen. Eines der Fotos ist mir schmerzlich vertraut: Es zeigt meine Mutter als kleines Mädchen. Früher habe ich es immer mit ins Bett genommen. Bei der Erinnerung daran muss ich lächeln. Damals dachte ich, wenn ich sie bloß mit all meiner Kraft lieben würde, käme sie ganz sicher wieder zurück. Ich stelle das Foto wieder hin. Es gibt noch zwei weitere von mir und Mum zusammen, auf einem lächelt sie sogar, was eine Seltenheit ist.
Die Türglocke ertönt. »Das wird Reg sein! Ich habe ihn zum Mittagessen eingeladen«, ruft Nana.
Wieso nervt mich das? Ich kehre in die Küche zurück, als Reggie mit einem Büschel frischer Erbsen zur Tür hereinkommt. Mit seinem stämmigen Körper scheint er den ganzen Raum einzunehmen wie ein übergroßes Möbelstück. Außerdem spricht er mit einem affigen Cockney-Akzent. Mit einem Mal schlägt die Stimmung im Raum komplett um – Nana zwitschert und trällert wie ein Wellensittich, während sie sich an die Zubereitung des Mittagessens macht.
»Ich habe noch ein schönes Stück Schinken im Kühlschrank, Reg.«
»Das klingt wunderbar! Hallo, Viv. Alles in Ordnung, Herzchen?« Er besitzt das typisch zerfurchte Gesicht eines jahrzehntelangen Rauchers, das sich nun in zahllose Falten legt, als er mich lächelnd begrüßt.
»Geht, danke.«
Nana wirft mir einen Blick zu, worauf ich mich brav an den Tisch setze.
Reg blickt in den Garten hinaus. »Ein schöner Tag, nicht?«
»Hmhm«, gebe ich zurück.
»Und was hast du heute so vor?«
»Nichts Besonderes.«
Nana stellt die Teller auf den Tisch. »Sie stattet ihrer Nana einen Überraschungsbesuch ab, stimmt’s, Schatz?«
Sie tauschen einen Blick, dann lächeln sie und wenden sich wieder mir zu. Plötzlich fällt der Groschen: Ich bin hier so etwas wie der Anstandswauwau.
»Ich sollte mich wieder auf den Weg machen. Eigentlich wollte ich nur mal kurz Hallo sagen, Nana.«
»Was? Deswegen bist du den ganzen Weg aus London hergekommen?«, lacht Reg.
Nana drückt mich auf die Bank zurück. »Nicht doch, Viv, du bist gerade erst gekommen.«
»Ich weiß, aber ich habe noch einiges zu erledigen, außerdem sehen wir uns sowieso am Sonntag.« Ich umarme sie und schließe die Augen, um Reg nicht ins Gesicht sehen zu müssen. »Vielleicht bringe ich ja Max mit.«
Mit bekümmerter Miene folgt sie mir zur Tür. »Aber ich will nicht, dass du schon wieder gehst.« Sie kuschelt sich an mich, als wäre plötzlich sie das Kind, das lieb gehabt werden muss.
»Ich weiß, aber Reg ist ja hier, und ich komme am Sonntag wieder.«
»Ich wusste doch nicht, dass du kommst, sonst hätte ich Reg Bescheid gesagt.« Sie sieht mich niedergeschlagen an.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, wiegle ich ab, obwohl ich mich insgeheim freue, dass sie meinen kleinen Seitenhieb registriert hat. »Bis bald, Nana.« Ich trete hinaus.
»Ich hab dich lieb!«, ruft sie mir hinterher, als ich die Einfahrt hinuntergehe. Plötzlich kann ich es kaum erwarten, aus ihrem Leben zu fliehen. Als ich mich an der Ecke noch einmal umdrehe, steht sie in der Tür und winkt.
Im Zug zurück nach London überfällt mich ein leises Unbehagen, das ich jedoch nicht recht zuordnen kann. Mir ist nicht klar, wieso ich mich so benommen habe. Inzwischen bereue ich, dass ich ihr ein schlechtes Gewissen gemacht habe. Wahrscheinlich wollte ich mich bloß nicht ausgeschlossen fühlen. Es mag albern sein, aber ich hatte erwartet, dass sie nur für mich da ist und Reg wieder nach Hause schickt. Vielleicht war ihr ja nic ht bewusst, dass ich dringend Hilfe brauche. Wie soll man jemand anders auch klarmachen, dass einem das Herz gebrochen wurde? Wie soll man einen anderen Menschen um Hilfe bitten? Und wer kann einem überhaupt helfen? Inzwischen merke ich, dass keiner aus meinem Freundes- und Familienkreis Rob besonders leiden konnte. Aber nur weil sie ihn nicht mochten, können sie nicht von mir erwarten, dass
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