Liebe auf den letzten Blick
großen Traum erzählt?«, fragt sie.
»Kann mich nicht erinnern. Aber was hat das mit den fünfhundert Euro zu tun?«
»Sehr viel«, antwortet sie, strafft die Schultern und verkündet feierlich: »Ich wollte früher nämlich tatsächlich Wahrsagerin werden!«
»Nein!«
»Doch! Übrigens ein höchst ehrenwerter Beruf, den auch Prinzessin Märtha Louise von Norwegen ausübt. Sie hat dafür sogar ihre Prinzessinnenkrone abgelegt. Ich habe dir nie davon erzählt, aber ich habe mich schon in den Siebzigern dafür begeistert. Damals habe ich mir das erste Päckchen Tarotkarten zugelegt, und eine Weile konnte ich sogar vom Kartenlegen leben. Nicht in Saus und Braus, aber fürs Notwendigste hat’s gereicht. Doch in den Achtzigern ebbte die Esoterikwelle wieder ab, und ich wurde schwanger. Die Beziehung zu dem Vater meiner Tochter hielt jedoch leider nur knapp ein Jahr, ich stand plötzlich als Alleinerziehende da – und war quasi dazu gezwungen, mir einen solideren Beruf zu suchen.«
Ich bin baff. Zwar wusste ich, dass sie eine erwachsene Tochter hat, die in Amerika verheiratet ist, aber von dem Vater habe ich sie nie reden hören.
»Und ich dachte immer, Buchhalterin wäre dein Traumjob, weil du mit Leib und Seele dabei warst«, wundere ich mich.
»Von wegen Traumjob. Aber wenn ich etwas mache, dannmit vollem Einsatz. Als wir in die Frührente entlassen wurden, habe ich mich an meinen alten Traum erinnert und den größten Teil meiner Abfindung in Seminare gesteckt. Astrologiekurse und Tarotseminare in Kombination mit Mondphasenstudien, alles was man braucht, um das Schicksal der Menschen zu deuten. Und jetzt habe ich mich entschlossen, uns aus der Finanzmisere zu helfen, indem ich Horoskope erstelle, Karten lege und Menschen in Lebenskrisen berate. Alles, was mir noch fehlt, ist ein blumiger Künstlername, vielleicht irgendetwas mit Madame, Anzeigen in Zeitungen schalten oder eine eigene Homepage basteln. Und dann scheffle ich ein Vermögen! Das hier«, sie nimmt die Scheine vom Tisch und wedelt damit vor meiner Nase rum, »ist erst der Anfang. Genauer gesagt: Der Erlös aus den letzten drei Tagen. Meine erste Kundin war meine Fußpflegerin, und einige Freundinnen von ihr hatten ebenfalls Interesse.«
»Und du hast tatsächlich Geld dafür bekommen?«, frage ich verwundert.
»Da staunst du, was?« Zufrieden lehnt sie sich in die Polster und spielt mit ihren Schals. »Du glaubst ja gar nicht, wie viele Frauen in unserem Alter Probleme haben. Mit Männern, mit der Menopause und dem Leben an sich. Überall Krise, so weit das trübe Auge reicht. Wo man hinhört, Beratungsnotstand. Ich habe bereits zwei weitere Termine – nur durch Empfehlungen. Schätzungsweise verdiene ich in drei, vier Wochen genügend Geld, um meine Schulden bei dir zu begleichen und für einen Neustart mit Gustl.«
»Beratungsnotstand«, wiederhole ich verwundert.
»Genau!«, grinst sie. »Los, hol den Portwein raus, und spendier uns ein Schlückchen. Prosecco ist leider aus.«
»Es ist noch hell draußen«, wende ich ein. »Ich finde, wir sollten nicht vor der Dämmerung trinken.«
Kopfschüttelnd erhebt sie sich, schreitet zum Fenster und zieht die Vorhänge zu. »Gut so?«
Wortlos nickend schlurfe ich in mein Zimmer. Vielleicht hilft ein Gläschen, diese
tollen
Neuigkeiten zu verdauen. Irgendetwas an diesem wundersamen Geldregen kommt mir nämlich ziemlich undurchsichtig vor.
Beim Einschenken stelle ich die hauseigene Wahrsagerin einfach mal auf die Beratungsprobe. »Welchen Rat würdest du einer Frau geben, die sich in einen wesentlich jüngeren Mann verliebt hat, der sich aber nicht für sie interessiert und obendrein auch noch ein ziemlicher Frauenheld ist?«
Während ich ihr das Portweinglas zuschiebe, mustert sie mich eingehend. »Redest du von dir und Fred?«, fragt sie. »Ist ja nicht zu übersehen, dass du heiß auf ihn bist. Der Mann ist aber auch ein Jackpot.«
»Blödsinn!«, entrüste ich mich. Dennoch fühle ich mich ertappt, was eine heftige Hitzewelle auslöst, die mein Gesicht rot anlaufen lässt. »Mir ist lediglich heiß, was aber an den Wechseljahren liegt. Es war eine reine Testfrage, um deine Fähigkeiten als Lebensberaterin zu prüfen.«
»Eine Testfrage«, wiederholt sie. »Ohne die genauen Hintergründe und Umstände zu kennen, ist es schwierig, einen guten Rat zu erteilen. Aber wie heißt es: Man kann jeden Mann kriegen, es sei denn, er ist tot.« Sie greift nach dem Glas und prostet mir zu. »Auf unsere
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