Liebe auf den letzten Blick
dominiert. Über dem Kopfteil prangt ein gerahmtes Plakat, das Otto als jungen Schauspieler in einer Theaterproduktion als Stanley Kowalski in »Endstation Sehnsucht« zeigt. Der Goldrahmen wurde mit einem schwarzen Seidenschal dekoriert. Ich tippe, dass Irma ihre Trauer damit zum Ausdruck bringen möchte.
Die Kleiderkammer selbst misst schätzungsweise zehn mal zehn Meter und ist rundherum mit offenen Regalen aus honigfarbenem Holz, Schuhborden und breiten Schubladen ausgestattet. Auf massiven Messingstangen hängen Anzüge, Hosen, Jacken und Mäntel. Fast alles ist in Weiß oder hellen Farbtönen, dazu bunte Hemden und Accessoires nach den Farben des Regenbogens geordnet.
Für einen kurzen Augenblick sehe ich Otto in der Mitte des Raumes vor mir, wie er sich angesichts dieser unglaublichen Auswahl überlegt, ob er lieber ein rotes oder ein türkisfarbenes Accessoire wählt. Ein kurzes Blinzeln, und ich erkenne Irma, die auf dem Parkett kauert. Mit weit aufgerissenen Augen hält sie uns ein weißes Blatt entgegen.
»Die Erklärung?«, frage ich hoffnungsvoll.
Traurig schüttelt sie den Kopf. »Ein Brief.«
Amelie zögert nicht lange, reißt Irma das ramponierte Papier aus der Hand und fixiert es. »Der ist ja schon fünf Jahre alt!«
»Das Datum ist unwichtig«, entgegnet Irma. »Auf den Inhalt kommt es an!« Sie stöhnt auf. »Bitte, lies laut vor, vielleicht glaube ich dann, was da steht.«
Amelie holt gewichtig Luft und räuspert sich, als stünde sie vor Publikum, bevor sie beginnt:
»Mein Geliebter …«
»Geliebter?«
, unterbreche ich sie schockiert.
»Otto hatte einen Geliebten!« Irma schluckt.
Amelie hebt beschwichtigend die Hand. »Nun wartet doch ab, was hier steht. Also:
Mein Geliebter, wie in einem schlechten Film ist meine Familie vor Jahren ausgestorben, deshalb setze ich dich als Alleinerben ein. Du wirst eine hinreißende Witwe abgeben …
›Witwe in Gänsefüßchen‹
… und mir ein treues Andenken bewahren, wie du mir immer ein liebender Freund und eine zuverlässige Stütze in trüben Stunden warst. Ich werde dich immer lieben.
Kommen wir nun ohne langes Geschwafel zu meinem letzten großen Auftritt. Meine Beerdigung! Du kennst mich seit Jahrzehnten und weißt sehr gut, dass mir eine der üblichen Beisetzungen ein Gräuel wäre. Deshalb habe ich diesbezüglich Wünsche bei meinem Anwalt hinterlegt. Der Ablauf ist ein wenig dramatisch, aber auch lustig, wie in jedem guten Melodrama. Doch du wirst meinen Wunsch nach einer unkonventionellen Zeremonie …«
Sie räuspert sich abermals. »Hier endet der Brief.«
Mit wässrigen Augen blickt Irma zu mir auf. »Wer hätte das gedacht? Ottos Geliebter bekommt alles: Auto, Haus, Vermögen.«
Ich kann mir gut vorstellen, was sie fühlt. Doch vielleicht ist die Situation gar nicht so schwarz, wie sie glaubt. »Wo war der Brief?«, frage ich.
Irma greift nach der blassblauen Strickjacke, die neben ihr auf dem Boden liegt. »In dieser Kaschmirjacke, die ich allerdings noch nie an ihm gesehen habe.«
Amelie öffnet die rechte Faust, in der sie einen Kristall an einer silbernen Kette hält. Sie lässt den Stein über der Jacke hin und her pendeln.
»Lass diesen esoterischen Quatsch«, meint Irma. »Das bringt doch nichts. Otto und ich waren nicht verheiratet, das allein zählt.«
»Pssst«, zischt Amelie und konzentriert sich auf das Pendel. »Möglicherweise … ist Ottos Brief …«, beginnt sie.
»Etliche Jahre alt!«, unterbricht Irma sie spöttisch.
Amelie zieht die Brauen hoch. »Du hast mich nicht ausreden lassen.«
Genervt hebt Irma die Schultern. »Na, dann spuck’s schon aus,
Minerva
!«
»Längst hinfällig, wollte ich sagen.« Amelie setzt sich neben sie auf den Fußboden. »Du hast doch erzählt, dass Ottomit seinem Manager zusammen war. Und der ist vor einer ganzen Weile gestorben, oder nicht?«
»Ja, vor ungefähr fünf Jahren«, antwortet Irma.
»Na, bitte«, erwidert Amelie. »Vermutlich war der Brief bloß ein Entwurf. Er wurde ja auch nicht beendet. Ich bin sicher, er hat nichts zu bedeuten. Du solltest dir keine Sorgen machen. Otto hat dir das Erbe doch versprochen. Ich habe es selbst gehört.«
»Ich mache mir aber Sorgen«, beharrt Irma. »Nicht wegen des Erbes, wenn ihr das denkt. Ich komme schon irgendwie zurecht.« Sie sieht zwischen Amelie und mir hin und her. »Aber, wenn ich diesen blöden Wisch nicht finde, kann ich Ottos letzten Willen nicht erfüllen. Dann kann er nicht eingeäschert und auch nicht zum
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