Liebe braucht keinen Ort
viele Empathen unter Burnout litten, ermutigte man Liza und ihre Kolleginnen, Pausen einzulegen, wann immer sie sie benötigten, und auch kurzfristig Urlaub zu nehmen. Man stellte ihnen sogar eine kleine jährliche Summe für Reisen zur Verfügung. Liza griff selten darauf zurück, und ihre Beraterin war begeistert, dass sie es endlich machen wollte. Major Dawson wischte schließlich noch Lizas Bedenken vom Tisch, dass sie ihr Training schon am Anfang für die Reise unterbrechen musste.
»Prambanan!«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Verflixt gute Wahl! Ein mystischer Ort, ganz nah am Geist aller Dinge.«
Bis zu jenem Augenblick war Liza davon ausgegangen, dass Prambanan eine Stadt war oder vielleicht ein Vorort von Yogyakarta, wo Jasmine lebte. Major Dawson erklärte ihr, dass Prambanan ein vierzehnhundert Jahre alter Hindutempel war, der mehr oder weniger mitten im Dschungel lag. Liza hatte die nächsten paar Stunden damit verbracht, darüber nachzudenken, wie um alles in der Welt sie dorthin kommen sollte. Dann erhielt sie eine E-Mail von Jasmine, die ihr versicherte, der Tempel sei nur zehn Meilen von Yogyakarta entfernt und jede Stunde führen Busse dorthin.
Liza hatte sich am meisten davor gefürchtet, Mrs Hart von ihren Reiseplänen zu erzählen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, die alte Frau für ganze zwei Wochen zu verlassen, obwohl ihre Töchter und ein ganzes Heer von Pflegekräften sich um sie kümmerten. »Ich gehe nicht, wenn Sie es nicht wollen«, hatte sie ihr angeboten.
»Sei bitte nicht albern, meine Liebe.« Mrs Hart hatte sich zu ihr gebeugt und ihre Hand über Lizas Hand gelegt. »Ich weiß, du hast Angst, dass ich mich aus dem Staub mache, währenddu fort bist, aber das brauchst du nicht. Es würde mir nicht im Traum einfallen zu sterben, ehe ich weiß, wie die Sache mit dir und deinem jungen Mann sich weiterentwickelt. Und diese Dinge haben ja die Angewohnheit, sich weiterzuentwickeln, weißt du, ganz gleich wie trostlos es im Augenblick aussieht. Mein Leben ist der beste Beweis dafür. Also geh und folge deinem Herzen. Ich bin bestimmt noch hier, wenn du zurückkommst.«
Während sie sprach, hatte sie die dünne goldene Halskette mit den drei Diamanten von ihrem Hals gelöst und sie in Lizas Hand gleiten lassen. »Nimm das als Glücksbringer, Liza. Das sieht ohnehin seit fünfundzwanzig Jahren an mir nicht mehr gut aus. Dazu braucht man einen jungen Hals. Und junge Träume.«
»O nein, ich könnte niemals … «
»Komm schon, meine Liebe. Natürlich kannst du. Das sind nur Imitate, wie du sehr wohl weißt, aber meine guten Wünsche für dich sind echt, und ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich weiß, dass die Kette bei dir ist.«
Also hatte Liza die Kette genommen und war inzwischen sehr froh, dass die alte Dame darauf bestanden hatte. Jedes Mal, wenn sie Neptuns Tränen berührte, erinnerte sie sich daran, dass Mrs Hart an sie dachte und ihr nur das Beste wünschte.
Trotzdem war Liza froh, dass sie nicht direkt von London nach Java reiste. Als sie ihren Eltern erzählt hatte, dass sie plante, Jasmine in Indonesien zu besuchen, hatte sie sofort die Enttäuschung in deren Stimmen gehört. Als ihr klar wurde, dass die beiden gehofft hatten, sie würde mit ihrem Anruf einen Besuch bei ihnen zu Hause ankündigen, verspürte Liza Schuldgefühle, vermischt mit echtem Heimweh. »Also habe ich mich gefragt, ob ich nicht unterwegs noch kurz bei euch vorbeikommen könnte«, fügte sie rasch hinzu. »Ich bin ja lange nicht mehr zu Hause gewesen.«
Es war wirklich lange her. Beinahe vier Jahre, seit sie die letzte Heimreise unternommen hatte, denn normalerweise kam ihre Familie sie in London besuchen. Und als sie in ihrem Elternhaus ankam, war es beinahe ein Schock, dass dieser Ort, an den sie immer wie an ein Zuhause gedacht hatte, sich nun nicht mehr wie ein Zuhause anfühlte. Das Haus schien so groß im Vergleich zu ihren Räumen in London und wirkte irgendwie weniger gemütlich, als sie es in Erinnerung hatte. Als Liza die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, das sie damals mit so viel Trauer zurückgelassen hatte, war es, als stolpere sie in das Zimmer eines Kindes, das sie vielleicht einmal gekannt hatte. Sie brauchte ein wenig Zeit, um sich überhaupt an die Bands zu erinnern, deren Poster an den Wänden hingen.
»Warum hast du dir dieses Zimmer nicht genommen, als ich ausgezogen bin?«, fragte sie ihre kleine Schwester. »Es ist größer als deines.«
»Ich weiß,
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