Liebe braucht keinen Ort
fragte Liza, und Raj und Jasmine lachten.
»Das ist hier immer so«, erklärte Jasmine. »Außer an Feiertagen … «
»Dann ist es viel schlimmer«, ergänzte Raj.
Sie schauten einander an und lächelten über den Scherz, den sie schon viele Male miteinander gemacht hatten.
Jasmines Wohnung war winzig, kaum so groß wie Lizas zwei Zimmer im Wohnheim. Aber, erklärte Jasmine ihr, sie war größer als die Wohnungen, die sich die meisten Ehepaare leisten konnten.
»Ehepaare?« Lizas Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Du erfährst es als Erste«, sagte Raj mit breitem Grinsen. »Ich habe Prinzessin Jasmine gefragt, ob sie mich heiraten will, und sie hat Ja gesagt.«
Jasmine errötete und lächelte. »Ich bin keine Prinzessin«, sagte sie.
Raj schaute sie voller Bewunderung an. »Meine Prinzessin bist du.« Er wandte sich wieder zu Liza um. »Jedenfalls, ich habe ihr einen Antrag gemacht, und sie hat Ja gesagt. Ich habe keine Ahnung, warum.«
»Weil du so reich bist«, neckte ihn Jasmine, »und weil ich Mama versprochen habe, ich würde einen reichen Geschäftsmann heiraten.«
Raj hatte gerade als Assistenzarzt in dem Krankenhaus angefangen, wo Jasmine als Empathin arbeitete. Sie würden noch lange arm sein, und beide würden weniger verdienen, als sie an einem anderen Ort bekommen könnten, doch es schien ihnen nichts auszumachen. In diesem üppig grünen, vor Menschenwimmelnden Land der tausend winzigen Inseln hatten sie einander gefunden, und nur darauf kam es an.
Jasmine, die immer ein wenig pummelig gewesen war und gegen die Kälte selbst mitten im englischen Sommer viele Kleidungsschichten getragen hatte, war aufgeblüht wie eine exotische Blume, seit Liza sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war dünner geworden –»Keine Pommes! Keine Doughnuts mehr!«– und hatte den Schatten verloren, den Liza bei sich selbst, bei David und selbst bei der selbstbewussten Mia beobachtet hatte – den Schatten des Heimwehs. Sie und Raj würden ihr Leben dort verbringen, wo sie geboren waren. Ihre Kinder würden mit Großeltern, Cousinen und Cousins aufwachsen. Ihre Arbeit und ihr Leben würden ihr Land stärken, und ihre Zufriedenheit über all das strahlte hell wie eine kleine Sonne. Liza dachte an ihre Zeit mit David zurück und daran, dass beinahe jede Minute ein Drahtseilakt gewesen war. Es fiel ihr schwer, Jasmine und Raj nicht zu beneiden oder zu überlegen, wie es wäre, mit ihnen zu tauschen.
Nachdem Raj gegangen war, erzählte Liza Jasmine von David, wobei sie wie bei ihren Eltern verschwieg, dass man auf Omura die ungute Angewohnheit hatte, den einen Partner zu vernichten und den anderen nach Hause zu holen, sobald man eine Beziehung zwischen den Planeten entdeckt hatte.
»Und du bist den ganzen weiten Weg hierhergekommen, um ihn zu suchen!« Jasmine seufzte. »Er muss wirklich etwas ganz Besonderes sein. Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.«
»Eins nach dem anderen«, sagte Liza. »Ich meine, was ist, wenn er mich nicht sehen will?«
»Warum sollte er dich nicht sehen wollen? Natürlich will er dich sehen!«
Es war schön, diese Worte zu hören, obwohl Liza selbst ihre Zweifel daran hatte.
Am nächsten Tag war sie schon beinahe drei Stunden in Prambanan und hatte noch immer nicht das Gebäude betreten, in dem David arbeitete. Teilweise lag das an ihrem Zögern, das wusste sie, aber teilweise auch an Prambanan selbst. Sie war so in ihren Plan vertieft gewesen, David zu suchen, dass sie nicht darüber nachgedacht hatte, wie ein Hindutempel wohl aussehen würde.
Sie war früh am Morgen eingetroffen, als der Nebel sich gerade hob. Langsam wurden die zentralen Tempelanlagen sichtbar, jeder Turm wie eine Fackel mit scharfen Spitzen, die weit in den Himmel ragten.
Als Liza aus dem Airbus ausgestiegen war und sich auf den Weg über die breite Allee gemacht hatte, die zum zentralen Platz führte, hatte sie nicht nur ein oder zwei oder einige Dutzende weitere Tempel entdeckt, sondern Hunderte, manche so hoch wie ein Haus, andere kaum so groß wie sie, manche leer, andere das Obdach für Statuen von Hindugöttern und -göttinnen , manche völlig unversehrt, andere auf geheimnisvolle Weise zu Ruinen zerfallen. Doch was sie besonders erstaunt hatte, als sie zu den großen Gebäuden vorgedrungen war, waren die Reliefskulpturen, die in die steinernen Wände gehauen waren. Auf beinahe jedem Gebäude, Fläche für Fläche, tanzten Männer und Frauen Geschichten von Liebe, Glauben und
Weitere Kostenlose Bücher