LIEBE DEINEN NÄCHSTEN Noah Fitz Thriller (German Edition)
zittriger Stimme.
„Ach ja?“
„Lasst uns lieber auf das Buch konzentrieren“, erwiderte Gregor kurz angebunden. „Er schreibt seine Gedanken so auf, wie sie kommen, hier zum Beispiel“, er blätterte auf die vorletzten Seiten des Heftes. „Hier ist die Schrift verwaschen und verblasst, weiter vorne ...“, wieder flogen die Seiten. „Da, schaut, hier sehen die Buchstaben noch ziemlich frisch aus.“
„Vielleicht hat er das Heft andersrum benutzt“, meldete sich Lisa unsicher. Ihr wurde sofort klar, dass es unsinnig war, was sie da plapperte.
„Nein“, Gregor blieb ernst. „Darum ergeben manche Textausschnitte keinen Sinn, da sie entweder von einem vorhandenen schon aufgeschriebenen Gedanken unterbrochen werden und mehrere Seiten später weiter geführt werden, oder sie greifen ineinander.“
„Nur ein Verrückter kann ein Genie verstehen, was?“ Michael schaute irritiert drein.
Gregor winkte seinen Spruch mit einem Kopfschütteln beiseite.
„Dieser Mann war im Begriff, etwas Wahres zu entdecken. Er ist eine intelligente Persönlichkeit, allein seine Sprachkenntnis lässt darauf schließen, dass er viel von der geheimen Materie wusste. Hier steht es zum Beispiel. Maria wird als Mutter Gottes angebetet, doch nach der Bibel ist sie ja nur die Mutter von Jesus, und Jesus ist nicht Gott. Er schreibt hier Folgendes: Maria bedeutet die Empfängliche.“
„Der meint damit, dass die Mutter von Jesus gar nicht Maria hieß?“ Lisa tränten die Augen vor Müdigkeit. Sie gähnte mit vorgehaltener Hand und entschuldigte sich für das unpassende Verhalten. Beide taten es ihr einfach nach, sie waren auch schon einige Stunden unterwegs, und Gregors Bein meldete sich wieder mit seinen Schmerzen. Zum Glück war es nicht so schlimm zugerichtet, wie es anfangs aussah. Die Angst ließ alles schrecklicher erscheinen, als es war.
„Er meint …“, fuhr Gregor fort und unterdrückte ein zweites Gähnen, indem er seinen Mund schloss, „… genau: Laut Bibel gebar die Jungfrau Maria unseren Jesus. Und somit wäre Gott ihr Mann, Jesus‘ Vater. Übersetzt aus dem Hebräischen würde es aber anders heißen: Eine junge, schwangere Frau wurde vom Allmächtigen auserwählt, ein Kind zu gebären, das dazu bestimmt wurde, im Namen des Schöpfers zu den Menschen mit seinen Worten zu sprechen. Messias, Jesus, auch Christus, alles bedeutet: der Gesalbte, was so viel wie ‚der Auserwählte‘ bedeutet“, vervollständigte Gregor seine Erklärung.
„Wenn man es so interpretiert, dann kann man sich ja alles zurecht biegen“, prustete Michael.
„Das meine ich auch, und das schon seit vielen tausend Jahren“, konterte der Neffe.
Michael lächelte nur. „So kann man es auch sehen“, zwinkerte er dem jungen Mann anerkennend zu.
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Im Wald war alles ruhig bis auf den Regen. Die riesigen Wassertropfen trommelten auch hier unerbittlich gegen die Scheiben des Hauses, das sich im dunklen Wald versteckt hielt.
Seine Bewohner schliefen alle, bis auf einen.
Sebastian konnte nicht einschlafen. Er hörte, wie die Männer sich in ihren Betten herumwälzten, da sie wie jede Nacht zu sechst in einem großen Raum schliefen, heute waren sie nach der Ermordung seines Partners Rick nur zu fünft. Er hörte jedes Geräusch, das diese Männer verursachten. Das Schnarchen der anderen vier störte ihn heute wie noch nie zuvor, auch die offene Stelle in seinem Oberkiefer fing an zu schmerzen, noch mehr litt er an Heimweh. Leise kroch Sebastian aus seinem Bett, ohne sich anzuziehen nahm er seine Klamotten und ging nach draußen, wo er sich rasch anzog. Leise wie eine Fledermaus beeilte sich Sebastian, zu dem etwas abseits geparkten Wagen zu laufen, den einer von den anderen des geheimen Clans des neuen Messias unter einer riesigen Fichte geparkt hatte. Die frische feuchte Luft raubte ihm die Sinne. Die Tropfen benetzten sein Gesicht. Sebastian hob den Kopf gen Himmel und ließ sich vom wohltuenden Regen küssen. Jener Augenblick tat seiner Seele gut, so musste sich Freiheit anfühlen, dachte er voller Schmerz.
Es roch angenehm nach Holz und Wald. Er fühlte sich auf einmal frei. Die Bäume schwankten in dem erfrischenden Wind. Die frische Brise war für diese Jahreszeit sehr ungewöhnlich. Wie dunkle sagenumwobene Riesen nickten die Herrscher des Waldes einander zu, flüsternd unterhielten sich die grünen Nadelbäume in einer geheimnisvollen Sprache. Kein Motorengeräusch war zu vernehmen, nur die Stimme der Natur.
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