Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
mir egal«, sagte Kern nach rückwärts.
      »Verstehen Sie doch«, flüsterte der Mann; »der Schreck, die Angst …«
      »Verstehen meinetwegen!« Kern wandte sich um. »Verzeihen ist mir zu anstrengend. Ich vergesse lieber.«
      Er blieb stehen. Sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung. Die andern hielten ebenfalls an. Kern legte sich ins Gras und schob seinen Koffer unter den Kopf. Die andern flüsterten miteinander. Dann trat die Frau einen Schritt vor. »Anna«, sagte der Mann.
      Die Frau stellte sich vor Kern auf. »Wollen Sie uns den Weg zurück nicht zeigen?« fragte sie scharf.
      »Nein«, erwiderte Kern.
      »Sie! – Sie haben doch Schuld, daß wir erwischt wurden! Sie Lump!«
      »Anna!« sagte der Mann.
      »Lassen Sie nur«, sagte Kern. »Immer gut, wenn man sich ausspricht.«
      »Stehen Sie auf!« schrie die Frau.
      »Ich bleibe hier. Sie können tun, was Sie wollen. Geradeaus hinter dem Wald links geht’s zum tschechischen Zoll.«
      »Judenlümmel!« schrie die Frau.
      Kern lachte. »Das hat noch gefehlt!«
      Er sah, wie der blasse Mann auf die maßlose Frau einflüsterte und sie wegdrängte.
      »Er geht bestimmt zurück!« schluchzte sie, »ich weiß, er geht zurück und kommt ’rüber. Er soll uns … er hat die Pflicht…»
      Der Mann führte die Frau langsam weg, dem Walde zu. Kern griff nach einer Zigarette. Da sah er ein paar Meter vor sich etwas Dunkles aufauchen, wie einen Gnom aus der Erde. Es war der alte Jude, der sich ebenfalls hingelegt hatte. Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Diese Gojim!«
      Kern erwiderte nichts. Er zündete seine Zigarette an.
      »Bleiben wir die Nacht hier?« fragte der Alte nach einer Weile sanf.
      »Bis drei. Dann ist die beste Zeit. Jetzt passen sie noch auf. Wenn keiner kommt, werden sie müde.«
      »Wer’n wir halt solange warten«, sagte der Alte friedlich.
      »Es ist weit, und ein Stück werden wir jetzt wohl kriechen müssen«, erwiderte Kern.
      »Macht nix. Wer’ ich halt auf meine alten Tage ’n jiddischer Indianer.«
      Sie saßen schweigend. Allmählich kamen Sterne am Himmel durch. Kern erkannte den Großen Bären und den Polarstern.
      »Ich muß nach Wien«, sagte der Alte nach einiger Zeit.
      »Ich muß eigentlich nirgendwohin«, erwiderte Kern.
      »Das gibt’s.« Der Alte kaute an einem Grashalm. »Später muß man dann wieder irgendwohin. So geht das. Man muß nur abwarten.«
      »Ja«, sagte Kern. »Das muß man. Aber worauf wartet man?«
      »Auf nichts im Grunde«, entgegnete der Alte ruhig. »Wenn es kommt, ist es nichts. Dann wartet man wieder auf was anderes.«
      »Ja, vielleicht.« Kern streckte sich wieder aus. Er fühlte den Koffer unter seinem Kopf. Es war gut, ihn zu fühlen.
      »Ich bin der Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein«, sagte der Alte nach einer Weile. Er holte aus einem Rucksack einen dünnen, grauen Havelock hervor und hängte ihn sich um die Schultern. Er sah jetzt noch mehr wie ein Gnom aus. »Manchmal ist es komisch, daß man einen Namen hat, was? Besonders nachts …«
      Kern sah in den dunklen Himmel. »Wenn man keinen Paß hat, auch. Namen müssen aufgeschrieben sein, sonst gehören sie einem nicht.«
      Der Wind fing sich in den Kronen der Bäume. Es rauschte, als wäre hinter dem Walde ein Meer. »Glauben Sie, daß sie schießen werden drüben?« fragte Moritz Rosenthal.
      »Ich weiß nicht. Vielleicht nicht.«
      Der Alte wiegte seinen Kopf. »Einen Vorteil hat’s, wenn man über siebzig ist; man riskiert nicht mehr so viel von seinem Leben …«

    STEINER HATTE ENDLICH erfahren, wo die Kinder des alten Seligmann versteckt waren. Die Adresse, die in dem hebräischen Gebetbuch gesteckt hatte, war richtig gewesen; aber man hatte die Kinder inzwischen anderswohin gebracht. Es dauerte lange, ehe Steiner herausbekam, wohin … man hielt ihn zunächst überall für einen Spitzel und war mißtrauisch.
      Er holte den Koffer aus der Pension und machte sich auf den Weg. Das Haus lag im Osten Wiens. Es dauerte über eine Stunde, bis er ankam. Er stieg die Treppen empor. In jeder Etage waren drei Wohnungstüren. Er zündete Streichhölzer an und suchte. Endlich fand er im vierten Stock ein ovales Messingschild mit der Aufschrif: Samuel Bernstein. Uhrmacher. Er klopfe.
      Hinter der Tür hörte er ein Raunen und Huschen. Dann fragte eine vorsichtige Stimme. »Wer ist da?«
      »Ich habe etwas abzugeben«,

Weitere Kostenlose Bücher