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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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schlafen. Aber er wachte alle Augenblicke wieder auf. Verdammt, was haben sie mit Ruth gemacht, dachte er. Und wie lange werden sie mich hier einsperren?
      Er bekam zwei Monate Gefängnis. Körperverletzung, Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt, wiederholter, illegaler Aufenthalt – er wunderte sich, daß er nicht zehn Jahre bekam.
      Er verabschiedete sich von dem Blonden, der um dieselbe Zeit freigelassen wurde. Dann führte man ihn nach unten. Er mußte seine Sachen abgeben und erhielt Gefängniskleidung. Während er unter der Dusche stand, fiel ihm ein, daß es ihn einmal bedrückt hatte, als man ihm Handschellen anlegte. Es schien ihm endlos lange her zu sein. Jetzt fand er die Gefängniskleidung nur praktisch; er schonte so seine Privatsachen.
      Seine Mitgefangenen waren ein Dieb, ein kleiner Defraudant und ein russischer Professor aus Kasan, der als Landstreicher eingesperrt worden war. Alle vier arbeiteten in der Schneiderei des Gefängnisses.
      Der erste Abend war schlimm. Kern erinnerte sich an das, was Steiner ihm damals gesagt hatte – daß er sich gewöhnen werde. Aber er saß trotzdem auf seiner Pritsche und starrte gegen die Wand.
      »Sprechen Sie Französisch?« fragte ihn der Professor plötzlich von seiner Pritsche her.
      Kern schreckte auf. »Nein.«
      »Wollen Sie es lernen?«
      »Ja. Wir können gleich anfangen.«
      Der Professor stand auf. »Man muß sich beschäfigen, wissen Sie! Sonst fressen einen die Gedanken auf.«
      »Ja.« Kern nickte. »Ich kann es außerdem gut gebrauchen. Ich werde wohl nach Frankreich müssen, wenn ich ’rauskomme.«
      Sie setzten sich nebeneinander auf die Ecke der unteren Pritsche. Über ihnen rumorte der Defraudant. Er hatte einen Bleistifstummel und bemalte die Wände mit schweinischen Zeichnungen. Der Professor war sehr mager. Die Gefängniskluf war ihm viel zu weit. Er hatte einen roten, wilden Bart und ein Kindergesicht mit blauen Augen. »Fangen wir an mit dem schönsten und vergeblichsten Wort der Welt«, sagte er mit einem wunderschönen Lächeln ohne jede Ironie – »mit dem Wort Freiheit – la liberté.«

    KERN LERNTE VIEL in dieser Zeit. Nach drei Tagen konnte er bereits beim Spazierengehen auf dem Hof mit den Gefangenen vor und hinter sich sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. In der Schneiderei memorierte er auf dieselbe Weise eifrig mit dem Professor französische Verben. Abends, wenn er müde vom Französischen war, brachte ihm der Dieb bei, aus einem Draht Dietriche zu machen und wachsame Hunde zu beschwichtigen. Er lehrte ihn auch die Reifezeiten aller Feldfrüchte und die Technik, unbemerkt in Heuschober zu kriechen, um dort zu schlafen. Der De-fraudant hatte einige Hefe der »Eleganten Welt« eingeschmuggelt. Es war außer der Bibel das einzige, was sie zu lesen hatten, und sie lernten daraus, wie man sich bei diplomatischen Empfängen zu kleiden hatte und wann man zum Frack eine rote oder eine weiße Nelke zu tragen hatte. Leider war der Dieb in einem Punkte unbelehrbar; er behauptete, zum Frack gehöre eine schwarze Krawatte – er habe es in genug Lokalen bei Kellnern gesehen.
      Als sie am Morgen des fünfen Tages herausgeführt würden, stieß der Kalfaktor Kern so hefig an, daß er gegen die Wand taumelte. »Paß auf, du Esel!« brüllte er.
      Kern tat, als ob er sich nicht auf den Füßen halten könnte. Er wollte auf diese Weise den Kalfaktor gegen das Schienbein treten, ohne daß er bestraf werden konnte. Es hätte dann wie ein Zufall ausgesehen. Doch bevor es dazu kam, zupfe der Kalfaktor ihn am Ärmel und flüsterte: »Melde dich in einer Stunde zum Austreten. Sag, du hast Bauchkrämpfe. Vorwärts!« schrie er dann. »Meinst du, wir können auf dich warten?«
      Kern überlegte während des Spazierganges, ob der Kalfaktor ihn mit irgend etwas ’reinlegen wollte. Beide konnten sich nicht leiden. Er besprach die Sache nachher lautlos flüsternd in der Schneiderei mit dem Dieb, der Gefängnisfachmann war.
      »Austreten kannst du immer«, erklärte der. »Das ist dein menschliches Recht. Damit kann er dir nichts machen. Manche treten öfer aus, manche weniger, das ist die Natur. Aber paß nachher auf.«
      »Gut. Mal sehen, was er will. Auf jeden Fall ist es eine Abwechslung.«
      Kern simulierte Bauchschmerzen, und der Kalfaktor führte ihn hinaus. Er brachte ihn zum Lokus und sah sich um. »Zigarette?« fragte er.
      Es war verboten zu rauchen. Kern lachte. »Das ist es also!

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