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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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andere Gefangene aus dem Hintergrund, wo er schattenhaf die Arme des Erhängten hob und senkte.
      »Fängt gut an, der Tag!« murrte die Wache und schob ab.
      Einige Minuten später kamen Sanitäter und holten den Erhängten ab.
      Kurz darauf erschien die Wache noch einmal. »Ihr sollt Hosenträger, Gürtel und Schnürriemen abgeben.«
      »Ich erhäng’ mich nicht«, sagte Kern.
      »Einerlei, ihr sollt’s abgeben.«
      Sie gaben die Sachen ab und hockten sich auf die Pritsche. Es roch sauer nach Erbrochenem. »In einer Stunde ist es hell, dann können Sie es wegmachen«, sagte Kern.
      Seine Kehle war trocken. Er war sehr durstig. Alles in ihm war trocken und staubig. Er fühlte sich, als hätte er Kohle und Watte geschluckt. Als würde er nie wieder sauber werden.
      »Furchtbar, was?« sagte der andere nach einer Weile.
      »Nein«, erwiderte Kern.

    MAN BRACHTE SIE am nächsten Abend in eine größere Zelle, in der schon vier Leute waren. Es schien Kern, als ob es alles Emigranten wären; aber er kümmerte sich nicht darum. Er war sehr müde und kletterte auf seine Pritsche. Doch er konnte nicht schlafen. Er lag mit offenen Augen da und starrte auf das kleine Viereck des vergitterten Fensters. Spät, um Mitternacht, kamen noch zwei Leute dazu. Kern sah sie nicht; er hörte sie nur rumoren.
      »Wie lange dauert das wohl, bis wir hier wieder ’rauskommen?« fragte die Stimme eines der Neuen nach einiger Zeit zaghaf durch das Dunkel.
      Es dauerte eine Weile, bis er Antwort bekam.
      Dann knurrte eine Baßstimme. »Kommt drauf an, was Sie gemacht haben. Bei Raubmord lebenslänglich – bei politischem Mord acht Tage.«
      »Mich haben sie nur zum zweiten Male ohne Paß erwischt.«
      »Das ist schlimmer«, grunzte der Baß. »Rechnen Sie ruhig mit vier Wochen.«
      »Mein Gott! Und ich habe ein Huhn in meinem Koffer. Ein gebratenes Huhn! Das ist dann verfault, bis ich ’rauskomme!«
      »Ohne Zweifel!« bestätigte der Baß.
      Kern horchte auf. »Hatten Sie nicht schon früher einmal ein Huhn in Ihrem Koffer?« fragte er.
      »Ja! Das ist richtig!« erwiderte der Neue erstaunt nach einer Weile. »Woher wissen Sie das, mein Herr?«
      »Wurden Sie damals nicht auch verhafet?«
      »Natürlich! Wer fragt mich da? Wer sind Sie? Wie kommt es, daß Sie das wissen, mein Herr?« fragte die Stimme aus dem Dunkel aufgewühlt.
      Kern lachte. Er lachte plötzlich so, daß er fast erstickte. Es war wie ein Zwang, ein schmerzhafer Krampf, es löste sich alles darin, was sich in den zwei Monaten in ihm aufgespeichert hatte, die Wut über die Verhafung, die Verlassenheit, die Angst um Ruth, die Energie, sich nicht zu verlieren, das Grauen vor dem Erhängten, er lachte und lachte, stoßweise und hefig und konnte nicht aufören. »Das Poulet!« stammelte er. »Tatsäch lich, es ist das Poulet! Und wieder ein Huhn im Koffer! So ein Zufall!«
      »Zufall nennen Sie das?« fluchte das Poulet wütend. »Ein ganz verdammtes Schicksal ist so was!«
      »Sie scheinen Unglück mit Brathühnern zu haben«, sagte der Baß.
      »Ruhe!« schnaubte ein anderer. »Die Pest über eure Brathühner! Einem Menschen ohne Heimat nachts einen solchen Kohldampf im Bauch zu entfachen!«
      »Vielleicht besteht zwischen ihm und den Poulets ein tieferer Zusammenhang«, orakelte der Baß.
      »Er kann’s ja mal mit gebratenen Schaukelpferden versuchen!« brüllte der Mann ohne Heimat.
      »Oder mit einem Magenkrebs«, wieherte ein hoher Quetschtenor.
      »Vielleicht war er in einem früheren Dasein einmal ein Fuchs«, vermutete der Baß. »Und jetzt rächen sich die Hühner dafür an ihm.«
      Das Poulet kam noch einmal durch. »So eine gottverdammte Gemeinheit, einen Menschen im Unglück noch zu verhöhnen!«
      »Wann denn sonst?« fragte salbungsvoll der Baß.
      »Ruhe!« schrie die Wache von draußen. »Hier ist ein anständiges Gefängnis und kein Nachtlokal!«
    Kern unterschrieb seine zweite Ausweisung aus Öster
    reich. Sie war lebenslänglich. Er fühlte diesmal nichts
            mehr dabei. Er dachte nur daran, daß er wahrscheinlich am nächsten Vormittag wieder im Prater sein würde.
      »Haben Sie in Wien noch irgendwelche Sachen mitzunehmen?« fragte der Beamte.
      »Nein, nichts.«
      »Sie wissen, daß Sie mindestens drei Monate Gefängnis riskieren, wenn Sie wieder nach Österreich kommen?«
      »Ja.«
      Der Beamte sah Kern eine Weile an. Dann griff er

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