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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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Morgens hing eine schwarze Gestalt mit gesenktem Kopf am Fenster. Er sprang von seiner Pritsche. »Ein Messer! Rasch!«
      »Verdammt, nein! Abgenommen! Ich werde ihn hochheben. Streifen Sie den Riemen über seinen Kopf!«
      Kern stieg auf die Pritsche und versuchte, den Erhängten anzuheben. Er war schwer wie die Welt. Er war viel schwerer, als er aussah. Seine Kleider waren kalt und tot wie er. Kern faßte mit aller Kraf zu. Er konnte ihn nur mit Mühe heben. »Los!« keuchte er. »Riemen lockern! Ich kann ihn nicht lange so halten.«
      »Ja.« Der andere kletterte hinauf und machte sich am Halse
    des Erhängten zu schaffen. Plötzlich ließ er los, schwankte und erbrach sich.
      »Verfluchte Sauerei!« schrie Kern. »Weiter können Sie nichts? Machen Sie ihn los! Schnell!«
      »Kann’s nicht ansehen!« stöhnte der andere. »Die Augen! Die Zunge!«
      »Dann kommen Sie ’runter! Heben Sie ihn hoch, und ich werde ihn losmachen!«
      Er gab den schweren Körper dem andern in die Arme und sprang auf die Pritsche. Der Anblick war schauderhaf. Das gedunsene, fahle Gesicht, die herausgequollenen, wie zerplatzten Augen, die dicke, schwarze Zunge – Kern griff nach dem dünnen Lederriemen, der tief in den geblähten Hals einschnitt.
      »Höher!« rief er. »Heben Sie ihn höher!«
      Er hörte ein Gurgeln unter sich. Der Mann erbrach sich schon wieder. Gleichzeitig ließ er den Erhängten los, dem durch den Ruck die Augen und die Zunge heraustrieben, als mache er sich auf eine grauenhafe Weise über die machtlosen Lebenden lustig. »Verdammt!« Kern suchte verzweifelt nach irgend etwas, damit der Mann unten zu sich kam. Plötzlich, wie ein Blitz, flog ihm die Szene zwischen dem blonden Studenten und dem Kalfaktor durchs Gehirn. »Wenn du verfluchtes Waschweib jetzt nicht sofort zufaßt«, brüllte er, »trete ich dir die Eingeweide aus dem Leibe! Los, du elender Feigling!« Gleichzeitig holte er mit dem Fuß aus und spürte, daß er gut getroffen hatte. Er trat noch einmal mit aller Kraf. »Ich schlage dir den Schädel ein!« schrie er. »Heb sofort hoch!«
      Der Mann unten schwieg und hob. »Höher!« tobte Kern. »Höher, du dreckiger Waschlappen!«
      Der Mann hob höher. Es gelang Kern, die Schlinge zu lösen und über den Kopf des Erhängten zu streifen. »So, jetzt ’runterlassen!«
      Beide griffen zu und legten den schlaffen Körper auf die Pritsche. Kern riß Weste und Hosenbund auf. »Stecken Sie die Klappe ’raus!« sagte er. »Rufen Sie nach der Wache! Ich werde mit künstlicher Atmung anfangen.«
      Er kniete hinter dem schwarzgrauen Kopf, nahm die kalten, toten Hände in seine warmen, lebensvollen und begann die Arme zu bewegen. Er hörte das rauhe, krächzende Schlürfen, wenn der Brustkorb sich hob und senkte und horchte manchmal – aber der Atem blieb aus. An der Tür rasselte der Mann, der nicht französisch sprechen wollte, mit der Klappe und schrie: »Wache! Wache!« Es hallte dumpf in der Zelle.
      Kern arbeitete weiter. Er wußte, daß man es Stunden machen mußte – aber nach einer Zeitlang hörte er auf.
      »Atmet er?« fragte der andere.
      »Nein.« Kern war plötzlich entsetzlich müde. »Es ist auch sinnlos. Der Mann wollte sterben. Warum soll man ihm das nicht lassen?«
      »Aber um Gottes willen …«
      »Mensch, seien Sie ruhig!« sagte Kern sehr leise und gefährlich. Er hätte es nicht ertragen, noch ein Wort zu hören. Er wußte alles, was der Mann sagen wollte. Aber er wußte auch, daß der andere sich zum zweitenmal aufängen würde, wenn er durchkam. »Versuchen Sie es«, sagte er nach einem Augenblick ruhiger. »Der hier wird schon gewußt haben, weshalb er nicht mehr wollte.«
      Gleich darauf kam die Wache. »Was soll der Radau? Verrückt geworden?«
      »Hier hat sich jemand erhängt.«
      »Herrgott! Was für Scherereien! Lebt er noch?«
      Der Wachmann öffnete die Tür. Er roch stark nach Zervelatwurst und Wein. Seine Taschenlampe blitzte auf. »Ist er tot?«
      »Wahrscheinlich.«
      »Dann hat’s ja Zeit bis morgen früh. Soll sich der Sternikosch damit ’rumärgern. Ich weiß von nix.«
      Er wollte weg. »Halt!« sagte Kern. »Sie holen sofort Sanitäter. Von der Unfallwache.«
      Der Wachmann starrte ihn an.
      »Wenn sie in fünf Minuten nicht hier sind, setzt es einen Krach, bei dem Sie Ihren Posten riskieren!«
      »Es ist doch möglich, daß er noch gerettet werden kann! Mit Sauerstoff!« rief der

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