Liebe Hoch 5
Hände an den Mund, winkte auf und ab hüpfend mit beiden Armen, doch das Geräusch des beschleunigenden Motors ließ sie stoppen. Sie atmete schwer, blieb mit auf ihren Knien abgestützten Händen stehen und japste. Der Bus wirbelte Schnee hinter sich auf, der sie einhüllte, als befände sie sich in einer Schneekugel. Ihre Jacke war weiß, der Schnee sammelte sich auf ihrem Kopf und fiel ihr in den Kragen.
Mit gesenktem Kopf lief sie weiter und klopfte sich in der Bushaltestelle ab. »Das gibt’s doch nicht!«, fluchte sie und wühlte in ihrer Tasche nach ihrem Handy. Sie hatte einen Kloß im Hals. Sie brauchte ein Taxi!
Ihr Griff nach dem Handy ging ins Leere. Ratlos blickte sie in die Augen der alten Dame, die auf der Bank saß und noch immer ihr Bäumchen umklammert hielt.
Jan erwachte von der Stille. Normalerweise drangen die Geräusche von der Straße zu ihm in die Wohnung, weil die Fenster alt waren. Vielleicht war heute aber auch einfach keiner auf den Straßen unterwegs. Was die Leute nur an Weihnachten fanden? Er war heilfroh, dass er diesen Krampf hinter sich hatte. Auf La Gomera hatte er sieben Jahre lang kein Weihnachten gefeiert und er plante nicht, wieder damit anzufangen.
Er setzte sich auf und lauschte.
Es war aber auch gespenstisch still. Als sei der Rest der Welt untergegangen und nur noch er übrig. Er schielte auf die Uhr. Eine Stunde hatte er gepennt, einen verdammten Mittagsschlaf gehalten wie ein Rentner! Irina war inzwischen bestimmt bei Milo und den Schwiegereltern. Jan setzte sich auf die Bettkante, griff nach seinen Kleidern, die auf dem Boden lagen, und zog sich alles über, tappte zum Fenster, um hinauszusehen und hob die Augenbrauen. Die Scheibe war weiß. Zuerst glaubte er, sie sei beschlagen, doch als er mit dem Unterarm darüber rieb, merkte er, dass sie zugeschneit war. »Ich glaub ich spinne«, murmelte er und öffnete das Fenster einen kleinen Spalt. Der Wind schlug ihm den Flügel fast aus der Hand, begleitet von einer Fuhre Schnee, die von der Fensterbank in sein Zimmer wehte. Mit einer schnellen Bewegung schloss er es wieder und klopfte sich ab. »Ach du Scheiße«, brummte er, »na dann frohe Weihnachten.«
Er lief ein Zimmer weiter, in sein Atelier, von dem eine Loggia abging, die so aussah, als habe jemand eine ganze Wagenladung Schnee hineingekippt. Jan sperrte den Mund auf. Bis in Kniehöhe lag der Schnee vor der Terrassentür.
»Mal sehen, ob ich genügend Proviant im Kühlschrank hab«, murmelte er und dachte an Irina, die es hoffentlich noch rechtzeitig bis nach Hause geschafft hatte. Warum hatte sie ihm eigentlich nicht schon längst die übliche SMS geschrieben? War sie inzwischen daheim oder am Ende irgendwo zwischen Giersdorf und Berlin steckengeblieben? Falls dem so war, würde sie Milo erklären müssen, wo sie blieb. Ein wenig Hoffnung keimte in ihm auf. Dass nicht er Milo einen Besuch abstatten musste, sondern die Sache sich von selbst erledigte.
Jan ging in die Küche und befüllte den italienischen Espressokocher mit Wasser und Pulver, um sich für die vor ihm liegende Nacht zu stärken. Es würden noch viele Espressi folgen, später vielleicht auch ein Schluck Whiskey, wenn er Inspiration und Schwung brauchte. Ein, zwei Whiskey halfen Wunder, um die Finger zu lockern. Heute musste er weibliche Kurven malen, Brüste und Hüften, Waden und Schultern, ein paar lockere Strähnen, die über Wangenknochen fielen. Irinas Haut hatte die Farbe von Pergament, die dunklen Augenbrauen wirkten wie Striche; dabei zupfte sie sie nicht einmal.
Jan hielt lauschend inne.
Etwas klingelte. Das Klingeln konnte er zuerst nicht zuordnen, es war nicht sein Telefon. Er legte den Kopf schräg. Es war Irinas.
Als er ans Bett kam und das auf dem Boden liegende Kissen aufhob, entdeckte er das schwarze Handy mit dem kleinen silbernen Anhänger, den er ihr vor wenigen Stunden geschenkt hatte. Er hatte lange gebraucht, um dieses Geschenk für sie zu finden. Es musste etwas sein, das sie sich auch selbst gekauft haben könnte, darauf hatte sie gepocht.
Home blinkte auf dem Display, das Klingeln wurde lauter – so hatte Irina es eingestellt, um sicher zu sein, dass sie es jederzeit hörte, wenn ihre Kids anriefen, Lenni und Piet. Vermutlich suchte sie ihr Handy und rief von zu Hause an.
Er meldete sich lächelnd. »Ja?«
»Irina?«
Jan unterbrach die Leitung. Er hatte Milos Stimme seit Jahren nicht gehört, aber es war klar, dass er es war. Jan warf das Telefon
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