Liebe im Zeichen des Nordlichts
abzukühlen.
Tess starrte ihn an, als hätte sie ihn nicht gehört.
»Kannst du dich noch an den Traum erinnern? Wenn du ihn gleich erzählst, kommt er nicht wieder.«
Sie blickte starr geradeaus. Als sie zu sprechen begann, waren alle überrascht und lauschten schweigend.
»Wir waren in der Schule«, sagte sie. »Und die Lehrerin hat Zettel verteilt.«
Ihre Stimme zitterte.
»Und auf jedem Zettel stand ein Name.«
Sie geriet ins Stocken, als ob sie nicht mehr weiterwüsste.
Am Tisch herrschte Schweigen.
»Man musste den Zettel auffalten.«
Ihre Augen waren schreckgeweitet. Sie schauten von einem zum anderen, aber es war nicht sicher, ob sie wirklich etwas sah.
»Auf dem Zettel«, fuhr sie mit bebender Stimme fort und schien kurz vor einem Tränenausbruch zu sein, »stand das Datum, an dem man stirbt.«
Jeder reagierte anders darauf.
Simon lachte laut auf. Der Traum beeindruckte und amüsierte ihn.
Della schnappte nach Luft. »Oh«, sagte sie. »Oh, Liebes.« Sie zog ihre Tochter an sich. »Ach, du Armes, du hast bestimmt große Angst gehabt.«
Bruno musterte Tess. Der Traum faszinierte ihn. Dass einem so kleinen Menschen solche Dinge einfielen, erstaunte ihn. Er hatte ganz vergessen, wie er selbst in diesem Alter gewesen und wie weit geöffnet sein Verstand gewesen war. Das ganze Universum war hindurchgezogen.
Addie beobachtete Bruno neugierig. Sie wollte wissen, ob er es ebenso unheimlich fand wie sie.
Vielleicht lag es daran, dass Silvester war. Vielleicht neigte man da besonders dazu, über die Zukunft nachzudenken, über das, was sie für einen bereithalten mochte. Vielleicht war es die beunruhigende Klarheit des Kindes, die Stimme aus dem Jenseits, die aus ihr zu sprechen schien. Ganz gleich, was es auch sein mochte, es hatte sie verstört. Der Abend war bereits so weit fortgeschritten, dass alle ein wenig zu viel intus hatten. Jetzt würden sie sich entweder noch mehr betrinken oder schlagartig nüchtern werden. Plötzlich breitete sich eine ernste Stimmung aus.
Simon begann, die Gläser nachzufüllen. Addie sprang auf und reichte den Käse herum. Della versuchte, Tess zu trösten. Das Kind schmiegte sich an die Brust seiner Mutter, doch sein Blick schweifte weiter durch den Raum. Sie lauschte dem Gespräch. Addie beobachtete, wie ihre Augenlider zu flattern begannen. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Addie gab Della ein Zeichen, leiser zu sprechen.
»Ich glaube, sie schläft.«
Della betrachtete das Gesicht ihrer Tochter, sah dann wieder Addie an und nickte wortlos. Sie stemmte sich mit den Beinen hoch, wobei sie unter dem Gewicht des schlafenden Kindes ins Taumeln geriet, und schlüpfte hinaus. Tess’ lange Beine baumelten zu beiden Seiten herunter wie leere Steigbügel.
»Würdest du es wissen wollen?«
Dellas Gesicht wirkte im Licht der tiefhängenden Deckenlampe schmal und eingefallen. Die Ringe unter ihren Augen wurden betont, die Kuhlen an ihren Wangen erinnerten an Höhlen.
Niemand brauchte nachzuhaken, was sie meinte, denn es beschäftigte sie alle.
»Nein«, erwiderte Simon wie aus der Pistole geschossen.
»Bist du sicher? Überleg mal. Du hättest die Möglichkeit, alles zu tun, was du schon immer tun wolltest.«
»Das habe ich doch schon jetzt«, entgegnete Simon mit Nachdruck. So funktionierte sein Verstand eben. Klar und eindeutig. »Ich habe genau das erreicht, was ich in dieser Lebensphase erreichen wollte.«
»Im Ernst?«
Bruno musterte Simon ungläubig und sah ihm forschend in die Augen.
»Klar, ich bin mit der Frau verheiratet, die ich liebe. Ich habe vier wunderschöne Kinder. Ich übe den Beruf aus, den ich schon immer ergreifen wollte. Ein hübsches Haus, ein hübsches Auto, Urlaubsreisen. Ich denke, dass ich noch öfter in Urlaub fahren möchte. Hoffentlich noch sehr oft.«
Die Brille war ihm auf die Nase gerutscht, und er schob sie mit dem Mittelfinger hoch. Eine Angewohnheit, die Bruno bereits aufgefallen war.
Della war noch nicht fertig mit dem Verhör.
»Also würdest du nichts verändern? Wenn du herausfinden würdest, dass du nur noch wenige Monate zu leben hast, würdest du genauso weitermachen wie immer. Du würdest einfach am Montagmorgen zur Arbeit gehen?«
Simon dachte kurz darüber nach. Er legte sich seine Antwort sorgfältig zurecht und klang sehr nachdenklich.
»Ja, ich glaube wirklich, das würde ich tun.«
»Bruno?«
Bruno zögerte nicht. Er hatte schon darauf gewartet, dass man ihn endlich fragen würde.
»Ich würde mir die
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