Liebe im Zeichen des Nordlichts
Hühnerfabrik, die tagein, tagaus am Fließband steht. Dann wieder ist sie Tennisspielerin ohne Gegner auf der anderen Seite des Platzes und schlägt Ball um Ball, ohne je einen zurückzubekommen.
Addie hat das schon Millionen Mal gehört. Doch sie weiß auch, dass Della und Simon spätnachts in der Küche Schieber tanzen, wenn die Kinder schlafen, und dass sie Sex auf dem Küchentisch haben, nachdem die Gäste gegangen sind. Deshalb fällt es ihr manchmal ein wenig schwer, sie zu bemitleiden.
Außerdem, dachte Addie, haben wir nicht gerade über mich gesprochen?
Sie schaute aus dem Fenster in den Garten.
»Della«, stellte sie entsetzt fest, »Elsa hat dein Hochzeitskleid an.«
»Ach, kein Problem. Ich habe es ihnen gegeben. Schließlich sieht es nicht danach aus, als ob ich es noch einmal brauchen würde.« Sie kam zum Tisch und drehte einen Stuhl zur Seite, um sich darauf zu knien.
»Aber sie ist damit im Garten, Dell, und macht es ganz schmutzig! Lola frisst gerade den Schleier!«
»Na und?«
Della kippte einen gehäuften Löffel Zucker in ihren Tee. »Das ist mein neuer Lieblingssatz! Er passt auf beinahe jede Situation, in der ich mich befinde. Du solltest ihn mal ausprobieren. Na und?«
Wie sie so in ihrem überkandidelten Abendkleid und den Teebecher zwischen zwei winzigen Händen am Küchentisch kniete, sah sie so hübsch aus, dass Addie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.
»Du solltest dich immer so anziehen. Es steht dir.«
»Vielleicht tue ich das ja irgendwann. Na und?«
»Genau, na und.«
Und sie waren wieder zwei Schwestern, vereint gegen den Rest der Welt.
Die beiden ähneln sich so, dass man sie sofort als Schwestern erkennt. Das gleiche runde Gesicht, die gleichen großen grauen Augen, die gleichen geraden kleinen Nasen. Selbst ihr Haar hätte den gleichen Ton, irgendetwas zwischen Braun und Blond, wenn sie es nicht färben würden.
Inzwischen tendiert Addies Haarfarbe zu einem dunklen Honigblond. Nummer 78 steht auf der Schachtel, die sie im Supermarkt kauft, wenn sie es nicht vergisst. Dellas Haar ist heller. Sie geht alle vier Wochen zu einem teuren Friseur, um sich Strähnchen färben zu lassen – ihr einziges Zugeständnis an bürgerliche Lebensverhältnisse.
Falls Addie je so berühmt werden sollte, dass man eine Puppe nach ihrem Vorbild herausbringt, würde diese aussehen wie Della. Der Kopf ein kleines bisschen größer im Vergleich zum Körper. Der Busen kleiner und straffer. Die Wangenknochen ein wenig höher, die Augen ein Stück mehr geweitet. Sie ist Addie wie aus dem Gesicht geschnitten, nur attraktiver. Della hat etwas Makelloses an sich. So als wäre die Gussform bei Addies Entstehung leicht aus dem Leim gegangen.
Als Kinder waren sie einander gar nicht ähnlich. Die Leute fanden, dass sie sich sehr voneinander unterschieden. Ständig hieß es, dass Addie nach ihrem Dad und Della nach ihrer Mum geraten sei.
»Da haben Sie eins von jeder Sorte«, hatte Addie jemanden sagen hören, aber sie wusste nicht mehr, wer es war.
In ihrer Kindheit standen sie sich nicht sehr nah. Sie wuchsen zwar miteinander auf und verbrachten jeden Tag zusammen, hatten aber nicht viel gemeinsam.
Stundenlang saßen sie allein in ihren Zimmern. Diese Stunden müssen sich aneinandergefügt und zu Wochen, Monaten und Jahren addiert haben. Doch in Addies Erinnerung verschmelzen sie zu einem einzigen Moment.
Sie kniet auf dem Boden vor einem großen Stück weißer Pappe und zieht Linien mit einem Bleistift und einem Holzlineal. Ihr Rücken tut weh, ihre Knie und ihre Schienbeine sind vom rauhen Teppichboden wundgescheuert. Sie hört Radio Nova; fast hat sie noch das Lied im Ohr, das gerade gespielt wurde, ist sich aber nicht sicher. Wenn drei bestimmte Lieder hintereinander liefen, sollte man beim Sender anrufen. Sie weiß nicht mehr, was man dabei gewinnen konnte.
Sie zeichnet erfundene Häuser auf diese großen Bogen. Prächtige Villen mit Innenhöfen, über denen Holzbalkone aufragen. Schlafzimmer mit Wendeltreppen, die zu verborgenen Gärten führen. Dächer, auf denen kleine Haine stehen und Hängematten zwischen den Bäumen befestigt sind, damit man unter den Sternen schlafen kann.
In diesen wunderschönen Traumhäusern, geschaffen von ihrer eigenen Phantasie, hat Addie ihre Kindheit verbracht. Nur ihr Schatten drückte sich in dem großen kalten Haus in der Strand Road herum. In ihrem Kopf schwebte sie durch miteinander verbundene Räume, jeder in einem helleren Blauton
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