Liebe in groben Zügen
Verschlafenes, als sollte man sie nicht wecken, wie schlafende Hunde. Der bringt uns um, sagte Vila.
Sie war Renz entgegengekommen, schon bis zu den Hüften im Wasser, und beide verließen die Bucht, vor sich den langen Strand, dort, wo er einsam war, keine Hotels, nur Büsche und wildes Kraut; sie blieben im Flachen, es gab kaum Wellen, ein Gang wie durch Glas, vor ihnen zwei Rochen im lichten Türkis. Vila verharrte, Renz nahm ihre Hand. Wie ich es dir beigebracht habe: einfach auf sie zulaufen, willst du’s versuchen? Sie wollte es nicht, und Renz machte es vor, das Rochenpaar schwebte davon, und fast hätte sie auf eine sonnenverbrannte Schulter geklopft, seine belehrende Seite war wieder einmal aufgegangen – was hatte er ihr nicht alles beigebracht, mit Spinnen fertigwerden, mit Handwerkern umgehen, ein Motorboot lenken, sich in Venedig auskennen, Rotwein lieben, Weißwein schätzen, niemals Hausschuhe tragen, Parklücken verteidigen, Filme zerreden, Austern essen, tausend Kleinigkeiten; der letzte Tag, an dem sie noch keine Renzstudentin war, lag weit im vorigen Jahrhundert. Noch als gewöhnliche Studentin hatte sie an diesem Dezembertag Schallplattenläden abgeklappert, die es damals noch gab, auf der Suche nach einer alten Single, Milord, gesungen von der Piaf, Mais vous pleurez, Milord!, das wollte sie mitsingen und heulen, aber hatte nur die Version mit Mireille Mathieu bekommen, und dann tauchte Renz auf und blieb einfach, und es spielte gar keine Rolle mehr, von wem die Version war, Piaf oder Mathieu, es war völlig egal, was sie am letzten renzlosen Tag in einem Plattenladen am Goetheplatz gekauft hatte, während er schon unterwegs war, um ihr am nächsten Abend, dem Silvesterabend, am Frankfurter Hauptbahnhof über den Weg zu laufen – alles, was uns zerstören kann, existiert bereits: womöglich das Wahrste, das er ihr später, beim letzten Glas in der Küche, nachdem die Freunde gegangen waren, gern eingetrichtert hatte, vor seiner ausgestreckten Hand, und da brauchte es schon einen Rest an Klarheit, an nüchterner Liebe, um in dieser Hand keine Finte zu sehen. Renz ging jetzt vor ihr, bis zu den Achseln im Wasser, ein amphibisches Wesen, und plötzlich tauchte er, drehte und schwamm auf sie zu, ein riesiger Fisch, und sie lief auf den überspülten, schon gehärteten Sand und joggte dort, wie es so viele taten, Junge und Alte. Sie hielt sogar das Tempo hinter einer viel Jüngeren mit Wasserflasche und Pulsmesser, und Renz rief hinter ihr her, Lauf nicht davon!, zweimal hörte sie ihn rufen, das zweite Mal kaum noch im Spaß, nur lief sie gar nicht davon. Sie lief jetzt den Dingen entgegen und kam nicht einmal außer Atem, als hätte sie seit Wochen trainiert – dem Nachmittag und dem Abendessen lief sie entgegen, ihrem Schlaf und dem morgigen Fischtrip, den letzten Strandtagen und ihrem Rückflug, dem Silvester bei Wilfingers und einem grauen Frankfurter Winter, grau bis zu dem Tag, an dem sie Bühl irgendwo in der Nähe von Freiburg wiedersehen würde – ein alter Gasthof, ein verschneites Dorf, weiße Dächer, weiße Tannen, am Zimmerfenster morgens Eisblumen und in ihren Armen ein warmer Kopf. Ein einziges Mal nur waren sie und Renz in den Schnee gefahren, irgendwo in Österreich, auch ein alter Gasthof, Katrin noch klein, ein verpacktes Wesen mit roten Backen auf ihrem Schlitten, am Abend sofort eingeschlafen auf dem Zusatzbett im Zimmer, und sie hatten sich still geliebt, das Fenster sogar etwas auf, um die Eiszapfen zu sehen: wo war das hin – die ganze lange Strecke des Lebens, mit einem Mal war sie spürbar, das meiste davon hinter ihr, aber auch ein ganz neues Stück, auf das sie zurannte, vor ihr.
DAS japanische Paar sprach kaum ein Wort Englisch, sie waren auf Hochzeitsreise, mehr ließ sich nicht entnehmen. Der Mann, schmal, sehnig, mit Baseballkappe und rotem Blouson, hatte noch am Strand die hundert Euro in Dollar bezahlt und sich dann gleich neben den einzigen, Renz vorbehaltenen Angelstuhl gestellt, während seine Frau, blass und noch schmaler, eine Elfe in teurem Armani-Sportzeug, den Schatten suchte – Vila schätzte sie auf Mitte zwanzig, ein Traumalter, ihn auf knappe dreißig. Beide hatten sich aus der Getränkekiste bedient, je eine Cola. Die Frau benützte einen Trinkbecher, in der anderen Hand hielt sie eine kleine Digital-Leica, offenbar neu, und sah unentwegt auf das Display, als könnte sie nur auf diesem Weg etwas sehen; ihr Mann hatte seine Büchse schon
Weitere Kostenlose Bücher