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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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aber mit ihrem dunklen Kostüm, hochgeschlossen, und einer Kurzhaarfrisur aussah, als sei sie selbst ein Opfer. Sie zitierte einige Eltern, die ihr gemailt hatten und Offenheit verlangten, und gab dann das Wort an Kilian-Siedenburg: Vorsitzender unseres Komitees zur Aufklärung sämtlicher Fälle. Bitte sehr.
    Und der begann mit Marc Aurel, etwas aus den Selbstbetrachtungen, schon in seiner Abirede der Anfang, ohne die Freundeshilfe undenkbar, und genau das Richtige vor all den Medienleuten und höchstens neugierigen Schülern: Fasse die Dinge nicht so auf, wie sie dein Beleidiger auffasst oder von dir aufgefasst haben will; sieh dieselben vielmehr so an, wie sie in Wahrheit sind!, und schon hatte er den zentralen Begriff: er sei da, um der Wahrheit Genüge zu tun, dazu gleich ein paar Einzelheiten, auch wenn sie abstoßend seien. Und dann führte er Sachen an, die ihm selbst nie passiert waren, in einem Ton, als müsse er sie bis heute mit ausbaden, aber erweckte auch gleich den Eindruck, als hätte er, mit kaum fünfzehn Jahren, Heiding bei einer versuchten Annäherung auf der Stelle durchschaut. Es ging mir nicht wie den anderen, sagte er – Fingerzeig auf seine geringe Anfälligkeit –, aber das Wenige reichte, um auf das Übrige schließen zu können – Hinweis auf eine frühe, nüchterne Intelligenz. Wie es leider auch reichte, um mehr als fünfundzwanzig Jahre zu schweigen, fügte er hinzu, um bei aller Intelligenz auch berührt zu sein. Ein Schweigen, das wir heute brechen! Und aus dem Saal sofortige Zustimmung, Schüler klatschten mit erhobenen Händen, Lehrer und Erzieher fielen in den Applaus der Opfer ein, als wollten sie noch mehr Details, um sich danach an den Kopf zu greifen: wie Derartiges nur hatte unbemerkt bleiben können oder von allen ignoriert werden konnte. Ich wusste viel, aber war für das Viele einfach zu jung, sagte Cornelius, als hinter einer der Kameras noch ein Zusatzlicht anging, der Moment, in dem es genug war, selbst wenn man dem Hintersten im Saal nur über die Schulter schaute.
    Vom Hesse-Saal gab es auch einen versteckten Pfad zum tiefer gelegenen Sportplatz und der Badewiese mit dem alten Ruderhaus, Bühl ging ihn hinunter und hörte noch, jetzt aus den Lautsprechern im Saal, die Stimme des Redners, einzelne Worte drangen ins Freie, System, Befriedigung, lebenslang. Cornelius hatte schon immer ein saloppes, die Details verachtendes Gedächtnis, daher ja das Problem mit Latein, ihn interessierte nur der Effekt, privat und beruflich, und dieser Abend, dieser Auftritt: seine späte Rendite aus den Aarlinger Jahren. Die Tür zum Ruderhaus war unverschlossen, normal bei der Witterung, alles, was zum Schneeräumen gebraucht wurde, lag dort. Er trat ein und suchte den Schalter neben der Tür, aber den gab es nicht mehr, dafür ging von allein ein Licht an, als er noch einen Schritt tat, eine Sparleuchte in der Ecke mit den Winterdienstsachen, wo früher Heidings Werkbank stand; alles war umgeräumt, nur ein Achter lag noch an derselben Stelle, die Länge bestimmte den Platz, und es war sogar die alte hölzerne Graf Luckner, so getauft vom Begründer der Ruder-AG, dem legendären Herbert Georg Diesch, einem Marinemann und Erzieher mit preußischem Stil, wie ältere Schüler erzählt hatten. Er ging zu dem Achter, und hinter ihm ein schnappendes Geräusch – die Ruderhaustür. Wie gut er es noch kannte, dieses Schnappgeräusch, Heiding hatte der Tür immer einen Stoß mit dem Fuß gegeben, und keiner konnte sie dann mehr öffnen von außen, das war jetzt anders. Nur das Geräusch war geblieben oder noch lebendig in ihm, wie der Geruch nach Dollenschmiere von den Booten, aber auch der nach Vanille von einer Massagebank neben dem Achter, auf der Bank eine Flasche Körperöl, parfümiert, und die blaue Packung Gauloises, dazu ein Kassettenrecorder, da musste man nur auf Play drücken, und schon kam Billie Jean: die kurzen Stepptöne am Beginn, während Heiding noch eine rauchte und ihm schon den Kopf hielt, den Nacken, das Ohrläppchen, die Wange mit den ersten Haaren, ihren entzündeten Wurzeln. Na und, sagte er, macht nichts, alles ist schön, auch ein Pickel! Nach Billie Jean kam Beat It, dabei schon der Geschmack von Rauch durch das Küssen, der Duft des Öls, und dann entglitten die Dinge, er ließ es zu, dass ihn Indianergerd ins Herz stieß, wieder und wieder. An einem Juniabend hatte das angefangen, an einem Juniabend war es zu Ende gegangen, mitten auf dem See, dazwischen

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