Liebe in groben Zügen
erledigte diskret die Bezahlung für das teure Dahinsterben und zahlte auch für ein Minimum an Respekt gegenüber einem alten Mann mit klappernder Olympia-Schreibmaschine statt PC, alles vergebens. In einer Februarnacht zog sich Hans-Georg Kilian eine Plastiktüte aus einem Feinkostladen in Rottach-Egern, Käse-Truhe, über den Kopf und verschloss sie mit einem Schuhbändel, wie es im Polizeibericht hieß. Und das nur, weil er geglaubt hatte, die Erträge aus seinem Werk und Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaft Wort und überhaupt die Früchte einer lebenslangen Arbeit würden die monatlichen Kosten für das noble Heim decken, die einzige Illusion, die er sich selbst gelassen hatte, nur flog sie durch Gerede des Personals auf. Bis zu diesem Tag war er von erschreckender Klarheit, sogar noch, wenn ihm die koreanische Schwester einen Katheter legte, damit er seine Blase leeren konnte, was auch gelang, obgleich er dabei weiterschrieb, als würde keine Katastrophe über ihn hereinbrechen. Ich schreibe, während man mich aufbohrt, nur so ist das auszuhalten, rief er eines Vormittags von seinem Tal ins Londoner Westend, und ich sagte, so dürfe er nicht denken, die müssten das tun, sonst vergifte ihn sein Urin, und er wurde noch lauter, noch empörter am Telefon: Einer, der nur Geld im Kopf hat, kann mir nicht sagen, wie ich denken soll. Es war vielleicht ein Fehler, dir fürs Lesen von Büchern Geld zu geben, Geld für dummes Zeug, auch wenn die Bücher dann beim Richtigen gelandet sind, deinem gescheiten Freund – was ist aus dem geworden, seid ihr auseinander? Es würde mich nicht wundern. Andererseits hättest du ohne das Geld kaum Oliver Twist geschafft, vom Ulysses gar nicht zu reden, weißt du noch den ersten Satz? Und er zitierte ihn, im Hintergrund die Katheterschwester, ihr Zureden, und ich entschuldigte mich, weil ich Schluss machen musste, ein Meeting begann, und in der Sitzung hätte ich fast von ihm erzählt, dem Mann, der mir das Wichtigste, was man über Geld wissen muss, beigebracht hatte: Man investiert nur in etwas, an dessen Wertvermehrung man glaubt. Und er glaubte wohl an meine, lange vor dem Euro. Für Ulysses gab es dreihundert Mark, für Schuld und Sühne zweihundert, Der Tod in Venedig brachte hundert und Kafkas Brief an den Vater einen Fünfziger, aber der Gipfel von allem, was noch dazukam, waren fünfhundert Mark für Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Und Bühl hatte das alles gelesen und mich gebrieft, bevor ich in den Ferien zu meinem Vater fuhr – als Kind war ich bei meiner Mutter, einer schwierigen Schönheit, die dann nach Indien ging, sich dem konsularischen Dienst anschließen wollte, ihr Mädchentraum, und als Marei von Siedenburg ist sie in Goa verschollen, Vorname und Titel ihre Erfindung, nur Siedenburg stimmte, mein Kindernachname. Ich behielt ihn bei, und Hans-Georg Kilian konnte darüber nur lachen, er sah immer von einer gewissen Höhe auf mich herunter, auch noch, als es bei ihm beruflich bergab ging. Seine Auflagen wurden immer kleiner, in die Lesungen kamen immer weniger Leute, am Ende nur noch drei. Das war Mitte der neunziger Jahre, als ich schon Geld mit Standortanalysen machte, einmal in einer Stadt, in der mein Vater gerade auftrat, Magdeburg. Kilian las dort in einem neuen, wie geleckten Buchkaufhaus, sein kleiner Tisch stand etwas erhöht und war nur über eine Treppe zu erreichen, durch ein Spalier gestapelter Bücher irgendeines Fernsehstars, der am Abend danach lesen sollte, und er durchschritt dieses Spalier und begrüßte die zwei, die zu der Lesung gekommen waren, bis er im Eingang den dritten Besucher sah, seinen Sohn. Er winkte mir zu und bat alle drei Besucher an seinen Tisch, also auf eine Höhe mit sich, und dann hielt er die Lesung, während die Angestellten in ihrem Glasbüro auf den Applaus warteten, damit sie endlich nach Hause konnten. Aber mein Vater ließ sich Zeit, er las eineinhalb Stunden, und der dritte Zuhörer liebte ihn, vielleicht zum ersten und letzten Mal. Und nach der Lesung, als wir noch in einem Imbiss saßen, hätte ich es auch fast gesagt, nur war Liebe für Hans-Georg Kilian eins der Würgewörter, wie er sie nannte, und kam gleich nach Glück. Glück, gab er mir an dem Abend mit auf den Weg – und verleugnete so eventuell das eigene Glück während des Lesens mit seinem Sohn als Zuhörer –, Glück sei in der Schöpfung nicht vorgesehen, dazu hätte es noch des ganzen siebten Tages bedurft. So viel zu ihm und mir.
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