Liebe in groben Zügen
sondern ein Poster aus seinen bewegten Jahren, Che Guevara auf dem Beifahrersitz eines Jeeps, Kopf leicht zurückgeworfen, eine Hand im Haar, das hinter einer Baskenmütze mit Sternchen über den Nacken quoll, wie sein eigenes zu der Zeit noch, in der anderen Hand eine kurze Zigarre, den Blick halb nach hinten gerichtet: zu einer jungen Genossin, konnte man meinen, einer, die ihn verehrte. Jedes Detail war ihm präsent, wie überhaupt dieser ganze erste Sommer, noch mit Telefonmast am Pool, dort hatten sie sich einmal nachts geliebt, Vila und er, das vom langen Tag erwärmte Holz der Telefongesellschaft Enel im Rücken, als machten sie es in aller Öffentlichkeit, Hund und Hündin verkeilt am Straßenmast; und in ihm noch die romantische Idee, er würde im Alter durch eine Kugel sterben, so aufrecht wie sein Posterheld.
Die meisten Regale waren schon leer, auf dem Boden vor dem Kamin ein Berg von Büchern, als wollte er sie wegwerfen. Es fehlten noch die obersten Regale, da müsste er auf einen Stuhl und das Gleichgewicht halten, nur hätte es keinen Sinn gemacht, die Waffe so zu verstecken, dass niemand sie erreichen kann. Auch sein Vater hatte sie eher bequem versteckt, im Kleiderschrank hinter den Hemden, ein Mann der weißen Kragen und soliden Krawatten, Renz sah ihn vor sich, wie er den Windsorknoten machte, ohne Spiegel, ja sah ihn überhaupt, den belesenen Allgemeinarztvater; seine Brille würde er unter Hunderten von Brillen erkennen, auch seine Schuhe oder die Hosenträger aus einem beinblassen Gummi. Tausend Dinge hatte dieser Mann ihm beizubringen versucht, von der Liebe zur Mathematik über das Zeichnen männlicher Körper bis zur Ersten Hilfe bei Fleischwunden, aber er selbst war der Stoff, den er ihm mitgegeben hatte fürs Leben. Renz zog sich einen Stuhl heran, er wollte nun doch wissen, was hinter den obersten Büchern war, manche versteckten gefährliche Dinge oberhalb ihrer Reichweite, andere unterhalb, für Vila konnte ein Versteck gar nicht nah genug am Boden liegen, am besten im Boden – vielleicht hatte sie auch ihre halbe Stunde so versteckt. Natürlich fragte er sich, was sie gemacht hatte in der Zeit, aber im Grunde war es nur die Frage, warum sie nicht wie alle anderen am Tisch geblieben war. Er warf die ersten Bücher von oben herunter, Alberto Moravia, altes Taschenbuchzeug, innen noch Reklame für Pfandbriefe.
Was wird das hier?
Katrin stand mitten im Raum, nur in dünnen Hosen und einem Top, das schwarze Haar halb im Gesicht, seine Kleine, die ihn im unverputzten Haus getröstet hatte. Er wollte vom Stuhl, aber wusste nicht, wie, mit welchem Bein zuerst, und sie half ihm, Was machst du da? Sie zeigte auf den Bücherberg, und er erklärte es ihr, leise und nah an dem warmen Gesicht, nah wie zuletzt, als er sie in den Schlaf gesummt hatte, Katrin noch so zierlich, dass man sich sorgte um sie, wenn sie alleine im Garten war. Und nur einer, sagte er, wusste von dem Versteck, unser Mieter, der irgendwo durchs Land wandert – kein anderer, ich bin ganz sicher. Warum schläfst du nicht? Er wollte ihr das Haar aus der Stirn streichen, aber sie zog den Kopf weg. Wenn du dir sicher wärst, hättest du nicht dieses Chaos angerichtet. Du bist betrunken, warum trinkst du überhaupt? Katrin führte ihn zum Sofa, und er setzte sich an den Rand, Hände im Schoß, und sie begann, die Bücher wieder zu sortieren mit ihren ruhigen Bewegungen, und ebenso ruhig erzählte sie von ihrem Fluss und den Menschen dort, aber auch anderen Menschen in anderen Ecken der Welt. Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden, wie als Kind vor dem brennenden Kamin, ordnete die Bücher und redete leise, und er hörte ihr zu und spürte sein Herz, als sei es auch betrunken, taumelnd. In China, sagte sie, herrschen Zustände wie in der Hölle, die Gefängnisse, die Wanderarbeiter, die Kohleminen. In Afrika verhungern Hunderttausende, ganze Völker sterben aus. Und die Indianer in Brasilien verkommen in immer kleineren Gebieten, sie berauschen sich, dämmern dahin, treiben Inzucht, wissen nicht mehr, wer sie sind. In Afghanistan werden täglich Leute von Bomben zerrissen, im Iran will man Frauen steinigen, in Syrien schießt man auf Kinder. Und du suchst nach etwas, das kein Mensch braucht – den Faulkner, chronologisch oder alphabetisch? Katrin stand vom Boden auf und sah über die Schulter, mit Vilas Blick aus den ersten Jahren, als sie noch offen war, an ihn geglaubt hatte, seine Ehrlichkeit, das Fehlen jeder Niedertracht,
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