Liebe in groben Zügen
und er stemmte sich aus dem Sofa und ging zu seinem erwachsenen Kind, das die Bücher jetzt wieder einräumte. Mach es, wie du willst, sagte er und horchte nach draußen, wo es stiller war als in ihm. Das Schütten hatte aufgehört, nur noch leichter Regen, morgen früh wäre alles vorbei, reiner Himmel und ein beruhigter See, Beginn der Gnadentage – vielleicht sollten sie morgen schon fahren. Warum wolltest du dein Kind nicht, fragte er, warum?
Und Katrin nahm seine Hand, zum ersten Mal, seit sie erwachsen war, außer Haus: die töchterliche Hand, die eine väterliche suchte, und sie erzählte die Geschichte mit ihrem Kubaner, vom Moment eins auf dem Parkplatz einer Mall in Orlando, als er auf einmal neben ihr herging, eine Gucci-Brille gegen das grelle Licht anbot und dazu ein Gedicht seines berühmten Onkels über die sozialistische Sonne aufsagte, bis zum letzten Moment in der Pablo-Neruda-Suite des Copacabana Hotels bei Havanna, als er rauchend vor dem Fernseher hockte und eine alte Mannix-Folge ansah und sie einfach wegging. Sie sparte nichts aus, nicht die erste, leichtsinnige Nacht in einem Holiday Inn und nicht die Stunde, in der sie auf einer Station für Frauen und Töchter von Funktionären unter einem Bild von Castro als Freund aller Frauen ausgeschabt wurde, die Sache selbst schmerzlos, ohne Bewusstsein, nur nicht davon gelöst – den wirklichen Schmerz kann nichts betäuben! Und immer noch hielt sie seine Hand oder suchte darin Nachsicht, und er sagte, Schlaf jetzt, ich mach hier weiter, und meine Frage, die kannst du mir verzeihen? Er sah Katrin an, ihr klares Gesicht erstmals gezeichnet, skizzenhaft seinem ähnlich, und sie legte ihm kurz die Hand an die Wange und drehte sich auch schon weg und ging in ihr altes Zimmer, gerade noch rechtzeitig, bevor er weinen musste.
Kein Ausbruch war das, nur etwas wie bei entzündeten Augen; er räumte noch die übrigen Bücher ein, dann nahm er sich den ältesten Grappa und trank auf einen Gestalter der Vorabendwelt, dem die eigene Welt entgleitet. Der zweite Schluck ging auf Katrin, die eine Hand in seine Welt gestreckt hat, der dritte auf Vila: mit der sich kaum noch Schritt halten ließ, ja er wusste nicht einmal mehr, wohin ihre Schritte führten. Fest stand nur, dass es andere als seine waren, wie auch fest stand, oder auf der Hand lag, bei wem sich der Gegenstand finden würde, den sich sein Vater unter den Feldarztkittel gerissen hatte, um sich im Falle eines Nazisiegs damit zu erschießen – Lauf in den Mund und abdrücken, die Worte dazu. Renz verkorkte die Flasche und ging ins Gästezimmer und legte sich dort ins Bett, das ersparte den Weg nach oben – es müsste endlich ein Geländer an die Treppe, eins aus weichem Lindenholz. Er drehte sich zur Wand, schauernd unter der Sommerdecke, ein Erschauern wie das in den Olivenblättern, wenn noch gar kein Wind geht, keiner, den man spürt oder an etwas anderem als dem Blättchenbeben bemerkt, Wind, der nur in der Luft liegt, Atem einer geduldigen Katastrophe.
*
XX
DIE Gnadentage am See, schwebende Sommerzugabe. Bis in den Mittag glitzernder Dunst, dann der Wechsel von Weiß zu Blau auf ganzer Breite, das Wasser erst zittrig, später glatt. Und jeden Abend ein Bangen, ob es auch morgen noch so wäre (siehe Tagebücher Gide, September achtundvierzig).
Vila und Renz ertrugen nur einen dieser Tage, dann ging es in dem übergroßen Wagen auf ihre kleine Reise; Katrin wollte so lange im Haus bleiben, sich mit den Kamayurá beschäftigen, ihr erster Forschungsbericht. Renz hatte sie noch vergattert: Nichts zu Vila über mein nächtliches Herumsuchen, die Waffe findet sich schon! Aber so leicht nahm er es dann doch nicht, vor der Abfahrt war eine Mail an den Mieter gegangen. Frage: Wissen Sie etwas von dem Gegenstand, den ich am Telefon erwähnt hatte, als Sie nachts in Assisi anriefen? Er liegt nicht mehr hinter den Büchern neben dem Kamin, er ist weg. Und wo stecken Sie? Wollen Sie das Haus wieder für den Winter? Wir würden uns freuen. Vila und ich fahren für eine Woche nach Sizilien, auf dem Rückweg holen wir unsere Tochter ab, dann könnten Sie einziehen. Und was macht der gute Franziskus? Sollte Ihr Buch Erfolg haben, kommt das Fernsehen von allein. Also schenken Sie sich nichts. Und schauen Sie, dass Sie an den See kommen, das sind jetzt die besten Tage. Ihr Renz.
Aber das musste man Bühl nicht sagen, das sah er selbst; er war mit dem Bus von Torri nach Magugnano gefahren und hatte im kleinen
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