Liebe in groben Zügen
Gestrüpp. Hinter dem Parkplatz ein fast trockener Bachlauf, Müll zwischen milchigen Rinnsalen, und drei wie vergessene Häuser, im mittleren eine Caffè-Bar, ein paar Tische im Freien; das eine Haus daneben leer, die Fenster eingeschlagen, das andere eine Abend-Trattoria, Sette Bello stand an der Tür. Sie lief zu der Bar und setzte sich an den einzigen Schattentisch. Und dort las sie, was sie nur angefangen hatte, als Renz schon im Bett lag, die Geschichte eines alten Paars, Franz und Klara, Bruder und Schwester, die einander nur heimlich lieben dürfen, der letzte Satz wie unterstrichen, obwohl der Druck dort besonders schlecht war. Sie beide sind ein Kästlein, das besser zubleibt, Punkt und Ende, kein Gruß an sie, nichts. Eine Frau in kurzem Jeansrock brachte ihre Bestellung, Espresso, ein Wasser und Schinken-Käse-Toast. Renz und sie waren ein ganzer Container, von außen nicht zu öffnen, sie und Bühl das Kästlein, wenn überhaupt. Sie trank den Espresso mit kleinen Schlucken, sie aß den Toast, auch alle Krümel, es blieb nichts für die Spatzen.
Kristian Bühl. Sein Name, in die leere Tasse gesprochen: wie das Entlangschaben an der Hohlwegmauer, ein Schmerz, der guttat. Sie bestellte noch einen Espresso und nahm sich Teile einer Zeitung, die auf dem Nebentisch lagen, Gazzetta del Sud. Der Brückenbau nach Sizilien, im Gespräch jetzt eine Volksbefragung; vor Lampedusa war ein Flüchtlingsboot gekentert, kaum Überlebende. Und eine Meldung aus Mailand, die las sie Zeile für Zeile. Michele Flaiano, ihr Talkkandidat, auf den man geschossen hatte, war aus dem Koma erwacht. Er wurde nach dem Namen seiner Frau gefragt und konnte sich sofort erinnern. Monica , das erste Wort nach vielen Wochen im Dunkel, Halt und Licht. Ein Wind vom nahen Meer, salzig wie der Wind am Malecón, schlug die Zeitungsseiten um, und sie trank den zweiten Espresso. Als Mädchen hatte sie manchmal ganze Nachmittage nur mit einem Wort verbracht, Hingabe, Zungenkuss. Nassrasur. Oder einem Namen, Roxy, Mercedes, New York. Und Michele Flaiano, der hatte mit Monica überlebt, ein ganzes Koma lang – möglich, dass man damit aufhören kann, an das zu glauben, was man liebt; aber nicht einmal tiefste Bewusstlosigkeit schützt einen davor, weiter zu lieben, woran man glaubt.
Irgendwo hinter dem Parkplatz ein helles, erschöpftes Bellen, und sie ging zum Bezahlen in die Bar. Die Frau im kurzen Jeansrock hatte kein Wechselgeld oder wollte keins haben, sie hob in gespielter Verzweiflung die Arme, und Vila ließ fünfzehn Euro liegen und trat wieder ins Freie: noch immer das Bellen. Es kam aus dem Bachlauf, und sie zog ihre Schuhe aus und lief auf einen der sandigen Streifen, bis sie etwas sah, klein und weißgrau. Zwischen Müll und Rinnsalen streunte ein Hund, deutlich zu sehen seine Rippen und eine Wunde im Fell, und auf einmal war er weg, irgendwo hinter dürrem Geäst, sie hörte ihn scharren, Canelino, wo bist du? Einmal, zweimal ihr Rufen, dann lockende Laute, Luftküsse, und schon tauchte er wieder auf, sprang von Stein zu Stein, in den Augen eine ängstliche Gier, und sie eilte ihm nach, weiter den Bachlauf hinunter, bis er stehen blieb, hechelnd, die Zunge halb aus dem Maul, ein wildes Tier, das keins sein wollte. Und jetzt? Sie beugte sich zu ihm, um ihn hochzuheben, wie ein Findelkind ins Hotel zu tragen, in das schreckliche Zimmer, ihn erst zu duschen und dann mit dem restlichen Fahrtproviant zu füttern; später würde sie noch eine Salbe für die wunde Stelle besorgen. Komm, hab keine Angst, sagte sie, und er kläffte und lief ihr davon, in ein Rohr voller Gestrüpp und Drähte unter der Autobahn, unerreichbar. Sie hörte nur mehr ein Knacken, auch leises Fiepen, weil etwas an die Wunde kam, da war sie schon auf den Knien, im körnigen Sand, eine Frau von dreiundfünfzig hinter einem streunenden Hündchen her, um es zu retten, wie sie ihr Enkelkind hatte retten wollen – was den Nachwuchs angeht: die Hoffnung nicht aufgeben, hatte ihr Katrin in die Geburtstagskarte geschrieben, manche Indios sind auch nicht ohne! Und ganze Sekunden lang, immer noch kniend im Sand, die Vorstellung eines Jungen mit verschlagenem Blick, der im Garten auf Eidechsen lauert, sie mit kleinen Pfeilen erlegt, die er aus einem Röhrchen bläst, und auf dem Balkon seine Großmutter, irgendeine Spur von Renz oder sich in den barbarischen Zügen suchend. Canelino, wo bist du? Sie versuchte es noch einmal, jetzt ganz dicht vor dem Rohr, und wieder ein
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