Liebe in groben Zügen
über hundert Mails, zum Glück in schönster Umgebung. Du weißt, wo ich wohne? Und kein Abwarten der Antwort, auch wie eh und je, sondern gleich ein Weiterreden, Konversation über die Villa Feltrinelli, gegen Kriegsende Domizil von Mussolini, heute Luxushotel mit nur sechzehn Zimmern, in den Klosettschüsseln Rosenblüten, der Pool aus jadegrünem Marmor und eine Augenweide auch das Cricketfeld, dazu Sterneküche, serviert in einem Pavillon, und immer himmlische Ruhe: sein Stichwort für die toten Eltern, sie nun ja beide Vollwaisen. Dieser tragische Autounfall, kurz Thema an dem Geburtstagsabend, sagt er, ich wusste ja von all dem nichts, mein Beileid. Und worüber wollen wir reden, über Aarlingen, Anfang des Jahres, odi et amo auf einer verschneiten Kühlerhaube? Auf dem Podium im Hesse-Saal wäre noch ein Platz gewesen. Aber du hältst dich ja lieber zurück. Hast du eine Freundin oder nur das Projekt? Franz von Assisi, warum gerade der? Ein gespaltener Charakter, nehme ich an, oder war er einfach verrückt nach Gott? Und bei den letzten Worten, verrückt nach Gott, hebt er sein kleines alles könnendes Ding und fixiert ihn über das Display, macht ein Foto mit Blitz und sieht es sich gleich an – Ex-Lehrer mit Rucksack zwischen den Knien auf Altarstufe sitzend, sagt er. Und die Schüler heute, sind sie wirklich unerträglich? Er macht noch ein Foto, und eine Schwalbe schießt aus dem Gebälk, ein Zickzackflug wie eine Fledermaus durch die Kapelle, bis sie durch einen Spalt zwischen Gemäuer und Dachstuhl ins Freie entkommt. Cornelius sieht sich auch das zweite Foto an, wie die Schüler in seinem Unterricht ihre Handyfotos von ihm, er mit dichtem Bart, eine Macht aus vergangener Zeit, den Ovid in der Hand oder Kleist, Kleist, den er wie einen Trojaner in die Ethikstunden geschleust hat, den Briefwechsel mit Henriette Vogel, alles vergebens. Am Ende stand er vor fünfzehn Mädchen und Jungs, die Liebe für eine Erfindung ihrer Tage hielten. Oder verändert bei ihnen die Erinnerung alles, macht es bitterer, als es war, auch das Wiedersehen mit Cornelius. Und die Leute aus deiner Welt, fragt er ihn, sind die erträglich? Wovon lebst du? Keine leichte Frage, im Grunde eine der schwersten, aber Cornelius tut sich damit gar nicht schwer, er sagt, von dem Geld reicher Erben, das er vermehre, heutzutage ein Sisyphos-Job. Und du, hast du auch geerbt? Er holt im Spaß sein Kärtchen aus der Jacke, Cornelius Kilian-Siedenburg, Consulting, oder was dort steht, dann erfährt er, dass ein kleiner Böcklin noch kein Erbe macht, der Tod nicht immer zum großen Geld führt. Wohl wahr, erwidert er nur und kommt auf Marlies zurück, ihre Beerdigung. Ein kleiner Dorffriedhof, viele Menschen, Bienengesumme am offenen Grab und zwischen den Blumen ein Foto von ihr aus den besten Jahren. Sie war ja eine dieser Schönen, mit denen die Alpen gesegnet sind, die Mutter im Kaffeehausgeschäft, der Vater Veterinär. Man trifft sie auf Kirchweihfesten und in der Tourismusbranche, immer lachend, aber einige zieht es in die großen Städte, Hamburg, München, Berlin. Und dort gehen sie dann irgendwann kinderlos ein, verenden an einem Krebs. Es gibt auch Selbstmissbrauchsopfer, da kommt jede Entschädigung zu spät – wir stehen im Moment vor dem Problem der Summe, welcher Betrag wäre angemessen, etwa für ein Heiding-Opfer? Nenn mir eine Zahl, oder wäre jede zu niedrig? Cornelius hebt wieder sein smartes Ding und macht noch ein Foto mit Blitz, das Opfer beim Nachdenken. Schon in Aarlingen hat er ihn ohne zu fragen fotografiert, meist aus dem Hinterhalt, aber noch mit Geräusch, und die Filme wurden dann zur Drogerie gebracht, jedes Warten auf die Entwicklung wie ein Lauern auf die digitale Revolution. Und er hat den Freund mit Kamera sogar beneidet: um den Blick des Fotografen, so präzise wie ein Name, der sich deklinieren lässt, Cornelius, Cornelii, Cornelio, Cornelium, Cornelio, das Ablativ-o leicht betont, so hat er es einmal vorgebetet, und das beim Schwimmen. Ein Junitag, der See noch kühl, und als sie sich trocknen ließen, Schulter an Schulter mit Gänsehaut, die Lippen blau, servierte er ihm noch den Catull, Wenn ich dich nicht inniger liebte als meine Augen, mein Calvus, würde ich für dieses Geschenk dich nun hassen. Und so weiter. Bald darauf schon die Sommerferien, Cornelius fuhr nach London, um sein Englisch zu verbessern, er fuhr nach Hause, dort für Wochen nur mit der zusammen, die ihn geboren hatte. Der Vater, noch
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