Liebe in groben Zügen
Schal um den Hals warf, erneuter Applaus, rhythmisch jetzt, und Renz winkte mit dem Geldschein den Wirt heran, aber der wollte nur die Hälfte – Venticinque!, ein ehrlicher Wirt, einer, der sie vor die Tür gesetzt hätte, statt die Polizei zu rufen. Renz aber drängte ihm das Geld auf, für die gute Zeit in seinem Lokal, er schlug auf den Schein, sich aufstemmend, schwankend, vom Wirt und von ihr gehalten, nur schwankte sie selbst, und der Nachbar half ihr zwischen den Tischen hindurch zur Tür. Eine kleine Prozession: vorn der Bärtige mit Rückwärtsschritt, um das Paar abzufangen, hinter ihnen, stützend, der mit der flachen Stirn und als Türöffner der wahre Held des Männerabends. Lascia perdere, sagte er noch einmal, dann waren sie sich selbst überlassen.
Der Markt war schon abgebaut, neben dem trockenen Bachlauf Berge von Abfällen, halbe Melonen, Fischköpfe, Innereien, leere Kartons, Kühleisbrocken, Schalen und weißliches Fett, und in dem Durcheinander ein Hin und Her von Lebewesen, Katzen, Möwen, Hunde, drei, vier magere Exemplare, darunter auch der kleine grauweiße – Vila sah ihn und wollte hinlaufen, nur machten die Beine nicht mit, und sie hielt sich an Renz. Der kleine Hund, rief sie, wir müssen ihn holen, die Wunde versorgen, dann bleibt er bei uns, er ist noch ganz jung, wir nennen ihn Agostino! Sie löste sich von Renz, ihr gelangen jetzt doch Schritte, die Möwen flogen auf, sie trat in die Abfälle, ihre Schuhe in einem Brei aus Obst- und Fischresten; zwei Katzen liefen davon, und dann sah sie ihn wieder, seine Wunde glänzend wie die Fleischfetzen im Müll, für Sekunden schaute er sogar zu ihr, um schon im nächsten Moment in Sprüngen das Weite zu suchen, quer durch den Bachlauf auf die Autobahn zu, und sie stolperte hinterher, fiel in das Kühleis und kam noch einmal auf die Beine und lief durch das Bachbett und eine Böschung hinauf, bis Renz sie von hinten packte. Willst du auf die Autobahn, willst du dich umbringen? Lass diesen Hund, lass uns gehen!
Wohin denn gehen, wohin jetzt? Sie schlug nach ihm, er hob die Hände, Hör auf damit, beruhige dich! Renz jetzt lauter als die Laster, die vorbeifuhren, und plötzlich drehte er sich zur Seite, übergab sich in einem Schwall, und sie verschränkte die Arme, bis es vorbei war, Renz nur noch eine bebende Hülle, der sie aufhalf. Und er ließ sich helfen, stützen, führen, zum ersten Mal in all den Jahren, aber auch er eine Stütze, wankender Halt, sie beide ein wankendes Gebilde. So ging es über den Parkplatz, vorbei an dem Jaguar, der dort einsam stand, und vor dem Hotel ein zweites Erbrechen, jetzt nur noch glasige Fäden. Renz weinte und hielt sich an ihr, sie führte ihn in die Halle mit Notlicht und fuhr an seiner Seite nach oben und half ihm ins Bett und wusste – ein Wissen wie das um das wahre Alter, nicht das gewünschte –, es ist der Beginn ihrer späten Jahre, zwanzig, dreißig, die Dauer spielt keine Rolle, nur die Bewegung in der Zeit. Sie bewegt sich mit ihm auf einen Frieden zu, den sie beide nie erreichen.
EIN wankendes Gebilde – von weitem gesehen auch jemand mit Stock in langem Mantel nach Tagen fast ohne Schlaf und Essen, auf Sandalen unterwegs in waldiger Berggegend. Bühl hatte den Stock gleich in der Macchia oberhalb von Campo aus einem Haselnussstrauch gebrochen und seitdem nicht mehr aus der Hand gegeben, weder im Bus nach Verona noch im Zug über Bologna nach Pésaro und auch nicht, wieder in einem Bus, auf dem Stück bis nach Urbino an den Ausläufern des Apennins – den wollte er überqueren auf seinem Weg nach Assisi, nicht besser ausgerüstet als Franziskus, außer mit Dingen, die weder den Magen füllen noch in den Frühstunden wärmen oder ein Kopfkissen bilden, Notebook, Pass und Mastercard. Die Sandalen ohne Fußbett und der Mantel, brauner Filz, waren aus einem Laden in Urbino, wo er den Rest seiner Kleidung samt Schuhen und Rucksack zwei Afrikanern überlassen hatte, die von Sierra Leone kamen und bis nach Deutschland wollten. Als Rucksack dienten jetzt zwei ineinandergeschobene Müllbeutel, schwarzes Plastik, darin regensicher das Schreibgerät, Papier und Stifte sowie die persönlichen Sachen, aber keinerlei Proviant. Er suchte sich Feigen in Tälern oder auf Rastplätzen Essensreste, er trank aus Bächen und schlief im Laub – wer den anderen verstehen will, muss zu dessen Körper werden. Ihm war schwindlig, wenn er beim ersten Licht auf die Beine kam, er hatte Krämpfe, Fäuste im
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