Liebe in groben Zügen
einfach loszuschreien wie die Frauen in Renz’ Serien. Der Nachbar hielt ihr wieder die Zigaretten hin, und sie bediente sich. Woher weißt du, was ich will, rief Renz. Woher weißt du, was für mich gut ist. Sei doch nur ein einziges Mal etwas klein!
Der Greis mit dem Schal drängte sich an den Tisch, er hob einen Finger, benimm dich hier, kein Krawall mit deiner Frau, und Renz nahm sich ihr Glas und trank auf ihn, Salute, ballerino! Er leerte das Glas, schon brachte der Wirt zwei neue. Der Sänger, sagte er, heißt Calmelo da Palermo und nimmt auch Wünsche an, Mi dica! Er beugte sich herunter, und Renz wollte noch einmal das Lied, bei dem alles still wurde, Femmena. Oder was möchtest du? Er griff nach ihrer Hand, wie er sich den Wein genommen hatte, und sie machte eine Faust, als der Wirt schon mit dem Star des Abends sprach. Renz stieß sein Glas an ihres. Den Gide, sag, warum wolltest du den, du kennst die Tagebücher doch. Oder wolltest du sie für jemand außerhalb des Hauses?
Und wenn? Vila nahm die andere Hand vom Stuhlbein, sie bog den Daumen unter die übrigen Finger. Wie klein soll ich werden, bis man mich nicht mehr sieht? Ein ruhiges Fragen zwischen zwei Zügen, die Zigarette jetzt auch ein Halt, wer raucht, schlägt nicht um sich, er schreit auch nicht. Nichts würde besser werden mit einem Geschrei, nichts war je besser geworden, und für wen auch das Theater, für Renz, damit er denkt, toll, eine Frau, die alles hat, was ich nur aufschreiben kann, das Herz, die Kraft, den Mut in einem Lokal voller Männer loszulegen als einzige Frau, die allen ihre Wunde zeigt, seht her, wenn ihr euch traut, seht meinen Wahnsinn: Soll sie das tun, damit der Wirt die Polizei ruft, zu feige, um sie vor die Tür zu werfen, die Carabinieri werden es schon regeln, sie samt ihrem Mann auf die Fähre nach Kalabrien setzen, haut ab in euer Land ohne Ehre, ohne Schande, wo Psychologen solche Dinge regeln und nicht die Mafia.
Wer hätte Bühl das zugetraut, auf seinen alten Freund zu schießen, sagte Renz. Trinken wir auf das Opfer, dass nichts zurückbleibt. Oder worauf willst du trinken? Er stieß wieder sein Glas an ihres, das hatte schon damals, in der Nacht zum Orwell-Jahr, angefangen, worauf trinken wir, das Leben, den Zufall, uns beide, und sie hob das Glas, auch wenn ihr Kilian-Siedenburg egal war. Sie hob es im Stillen auf den Täter, auf seine guten Gründe, und noch bevor sie es am Mund hatte, damit der Wein darin weniger würde, wurde er mehr, in Spuren salzig verdünnt – Tränen wie eine Abfuhr an Renz, du trinkst auf den Falschen, du weißt von mir nichts, und er wollte ihr das Glas abnehmen, sie womöglich trösten, also hielt sie es fest. Ein Hin-und-her-Gerucke, Wein schwappte ihr auf den Arm, auf die Brust, und auf einmal kippte sie ihm den Rest ins Gesicht, ein Herstellen von Gleichheit, nichts weiter, beide jetzt mit nassen Wangen, und dann schon ein Stück Wiedergutmachung, ihre alte Schwäche. Sie zog mit der anderen Hand seinen Kopf heran und musste lachen, ein Rotz-und-Wasser-Lachen, Hilf mir, Renz, hilf mir: Worte, gegen die sie nicht ankam, und er streichelte ihr Haar, während die Männer an den Tischen mal zu ihnen, mal zu dem Sänger sahen, als hätte er eine Antwort auf das fremdartige Paar. Denn er begann mit dem Lied, um das Renz gebeten hatte, der Wirt brachte noch schnell volle Gläser, Renz gab ihm Geld für den Sänger, zwanzig Euro, und tat auch gleich Geld für Wein und Essen auf den Tisch, einen glatten Fünfziger.
Calmelo da Palermo, wenn er so hieß, trug jetzt seine Polizeisonnenbrille und saß wieder zugewandt beim Singen oder singenden Erzählen von einer Frau mit immer leuchtenden Augen, die dieses Jahrhundert – gemeint das vorige – mit ein paar Falten mehr beendet, finisci questo secolo con qualche ruga in più. Ein Lied auf eine Frau samt ihren künftigen Falten, sagte Vila. Eine, die nicht erschöpft sein wird von zu wenig Liebe, nur vom Einkaufen und Kochen, vom Kindergroßziehen und Wäschewaschen, Putzen und Geldverdienen und auch noch Schönsein fürs Bett, phantastisch! Sie trank ihren Wein, jetzt in kleinen Schlucken, und als das Lied ausklang, kam der Tanzgreis noch einmal zu Renz und wischte ihm mit dem Schal übers Gesicht, wie einem Jungen, der geheult hat; von allen Tischen Applaus, den der Alte dämpfte. Und in die Stille hinein wandte sich Nicolò Cali an Vila. Lascia perdere, sagte er, lass gut sein, es reicht, ein freundlicher Rat, bevor er sich den
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