Liebe in groben Zügen
Unschärfe, wie durch eine falsche Brille gesehen und gerade darum scharf in übertragenem Sinn. Es hing im Flur, bis Katrin eines Abends Iiih machte, als sie daran vorbeiging, für Vila die Chance zu einem vernichtenden Kommentar: Das ist dein Vater, sagte sie, und er stellte auch dieses Bild zwischen kaputte Fernseher und alte Matratzen auf die Straße, Schlussakt seines Künstlertums, eine offene Wunde. Und trotzdem blieb man zusammen, Jahr für Jahr – trennen kann sich jeder, also trennte er sich nicht, nahm aber Zuflucht bei einer Schauspielerin, die ihn einfach nur gernhatte und umgekehrt auch, mehr wollte er gar nicht. Jemanden wirklich gernhaben war mehr wert als alle mühsame Liebe. In ihren Assisi-Tagen hatte er vom Hotelfenster aus gesehen, wie Vila nachts auf dem weiten Rasen vor der Basilika mit Kasper spielte, unter dem Reiterdenkmal des heiligen Franz im Moment seiner inneren Umkehr ließ sie Kasper über ihren Arm springen, und er, ihr Mann, hatte sie gern, wie man einen anderen nur gernhaben kann. He, ihr beiden, rief er herunter, und sie winkte ihm zu und hatte ihn wohl auch gern oder dachte nichts Arges, was auf dasselbe hinausläuft, ein kurzer und doch ewiger Augenblick, wieder in ihm auferstanden vor dem Badspiegel. Renz sah sich an: den, den Vila nicht so liebte, wie er war, aber vielleicht so brauchte, um sich nach etwas anderem zu sehnen. Schon als sie sich kennenlernten, war er der mit dem kühlen Blick auf die eigentlich warme Mitte der Frauen, kein verhinderter Maler, ein verhinderter Gynäkologe in ihren Augen, während er sie mit einer gewissen Sturheit liebte, um überhaupt zu lieben als der, der er war – zurzeit mit einer anderen in der Stadt, in der man nur sein sollte, wenn man sich für Franziskus interessiert oder einen Menschen, der einem so nahe ist, dass man ihn kaum erträgt, aber ohne ihn zugrunde ginge. Renz putzte sich die Zähne nach dem Wein, den Blick noch immer auf sich gerichtet: den, der sich nachts im Hotel, während die Geliebte schläft, die Zähne putzt, zur Not auch von sich selbst gerngehabt, solo ego basta.
FRANZ im Moment der inneren Umkehr – er sitzt auf seinem Pferd, den Kopf gesenkt, passiv, träumend im Sitzen, bereit, jeder Stimme, die nur ein wenig lauter als die eigene ist, Folge zu leisten, ja auch bereit, sich von einem Pferd tragen zu lassen, wohin es ihn tragen will, weil das Tier in seiner Unschuld dem Höchsten näher ist als der Mensch in seiner Verblendung: die ihn in Kriege ziehen lässt oder antreibt, sich in feinem Tuch zu zeigen. Franz in einer Art Halbschlaf, anwesend abwesend, Reiter und zugleich Teil des Pferdes, das schon in eine Richtung strebt – ein Passagier im Sattel, so vertrauensvoll wie der moderne Reisende im Flugzeug, das ihn zwischen Himmel und Erde zu neuen Ufern bringt, stundenlang über Wasser, auf dem es nicht landen könnte.
Bühl saß am Fenster, eine Schläfe am Rahmen, er sah auf das nicht endende Blau tief unter dem Gehäuse, in dem er und viele andere den Atlantik überflogen. Auf seinem Sitztablett, Business Class, Blätter des Alitalia-Malpapiers, das die Kinder in den hinteren Reihen beschäftigen sollte, zwei Blätter schon vollgeschrieben, die ersten Worte mit rotem Buntstift, dann war er abgebrochen. Sein Notebook und alle Notizen lagen im aufgegebenen Koffer, vor dem Abflug war Franz so weit weg wie Kuba, bis über dem Meer auch ein Umkehren einsetzte, ebenfalls träumerisch, vor leerem Blatt. Am Anfang noch Schreibübungen, Unterschriftvarianten für das Einreisedokument, Kristian Bühl, K. J. Bühl, Kristian Johannes Bühl , und danach alles in einem Zug, wie ein eilends verfasster Liebesbrief, der dem Adressaten auferlegt, ebenso eilig zu antworten, ja die Antworten fast vorwegnimmt, indem er sie nahelegt. Schreiben also als Taktik, um etwas vom eigenen Wollen in den anderen zu pflanzen, aber auch, um seiner Herr zu werden: ein Mittel gegen die Zwangsgedanken aller Liebenden – auch derer, die bestreiten würden, Liebende zu sein –, dass der andere ihnen schulde, was sie am nötigsten brauchen. Ein Zittern ging durch das Flugzeug, dann auch schon mehr, Schütteln und Gerucke wie in einem Auto auf schlechter Straße; die Anschnallzeichen blinkten, und Bühl nahm sich ein neues Blatt, Schreiben als Beruhigung.
Das Jahr zwölfhundertsiebzehn, im August, ein glühender Tag, Windstille, kaum ein Vogel, kaum ein Mensch. Franz, der sich Poverello nennt, Ärmling, Bettlerchen, kommt aus Verona. Er hat
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