Liebe in groben Zügen
den Dom und die Arena gesehen, den Stein für Gott und den Stein für die Menschen, dann ist er über Bussolengo nach Affi gewandert, bei sich Zitronenschößlinge. Und von Affi geht es morgens Richtung Garda, von der Anhöhe bei Costermano sieht er den Benacus im Dunst. Er erreicht den See gegen Mittag, erfrischt sich und zieht weiter, die Hände als Schirm über den wunden Augen; seine Milz ist hart wie Holz, der Kot blutig, er hat Malariaanfälle. Barfuß geht er am Seeufer, die Füße seine Schuhe, ledrig, dunkel, die Zehen gelb. Abends läßt er sich an der Mauer von Torri nieder, er setzt die Schößlinge ein. Vor zwei Sommern hat ihm eine junge Wäscherin die Stelle gezeigt, damals hatte er Samen dabei, nichts davon ist aufgegangen. Mit den Händen holt er Wasser vom See, dann betet er für die Pflänzchen: daß sie wachsen mögen, Menschen wie Vögeln ihren Saft geben. Nach ein paar Ruhestunden, noch im Dunkeln, zieht er weiter, um einer neuen Schwester das Haar abzunehmen; es gibt kein Ende, nur den Tod. Mit vierzig ist er Haut und Knochen, des Allmächtigen gefressener Narr, von Licht gequält. Alles an ihm ist Wunde, er ist da, wo er hinwollte. Seine Gebete klingen wie Lallen, keiner versteht sie mehr, aber jeder empfindet das Lallen als wahr. Zuletzt haucht er nur noch, ein Atmen aus der Dunkelheit, das immer leiser wird: Bruder Esel, wie er das eigene Fleisch nennt, haucht sich aus. Nackt auf nackter Erde stirbt Franziskus am dritten Oktober zwölfhundertsechsundzwanzig unweit von Assisi, und gleich entbrennt ein Streit: Wer wird die Gebeine besitzen? Schon gibt es Eiferer in seinem Namen, schon schwärmen Scharlatane aus.
Aber noch lebt der Poverello, noch läuft er am See entlang und trifft bei Nago die Gläubige, die sich ihm anschließen will. Er schneidet ihr das Haar, ganze Büschel, die er in der Hand hält, er schabt die Stoppeln mit dem Messer, die neue Schwester betet, Blut läuft ihr über die Schläfen, die Stirn, ihr Name: Agnes, Agnes von Nago. Als es vollbracht ist, umarmt Franz den roten Kopf, er drückt ihn an ein pochendes Herz, zum Zeichen, daß sie von nun an dazugehört, danach verliert er das Bewußtsein. Er hat tagelang kaum gegessen, kaum geschlafen; nach ein paar Stunden in einem Stall bei Torri ist er in einem einzigen Tagesmarsch bis ans Nordende des Sees gelaufen. Dort verläßt ihn Bruder Esel. Eine Weile liegt er wie tot auf der Erde, die neue Schwester beugt sich über ihn, sie hört sein Herz, es schlägt schwach, aber schlägt, und sie küßt die Stelle mit dem Vogelherzzittern darunter. Franz spürt ihren Mund und öffnet die Augen, er sieht ihr Tun und kann selbst nichts tun, noch reitet er den Esel nicht, kann weder Arme noch Beine bewegen, weder sprechen noch flüstern, nur schauen. Er spürt die Lippen auf der Brust, das Warme, Innige erschreckt ihn, er will es von sich stoßen und kann nicht, er glaubt zu sterben, aber lebt. Etwas in ihm bäumt sich, nur bäumt es sich im Einklang mit dem Innigen, Warmen. Franz kommt wieder auf die Beine, und ein Fischer bringt ihm Sardinen, er verschlingt sie, auf der Zunge feine Gräten und eine Entschuldigung an die Sardinen. Die letzte teilt er mit zwei Spatzen, dann macht er sich auf den Rückweg nach Torri. Die Wäscherin mit dem vielen Haar: Wenn sie es doch noch opfern würde, den Kopf vor ihm beugte, damit er alles Haar abschneide, könnte das in seine Eselslenden fahren. Aber ihr ausweichen, so wie er Klara ausweicht, nur weil sie ihn ins Wanken bringt? Man geht auch seiner Wege auf einer Erde, die wieder und wieder bebt, wie die umbrische, wir sind Menschen, weil wir wanken – ein erlösender Gedanke, Franz singt und zieht weiter, er verbringt die Nacht im kleinen Campo über dem See, das Lager wieder in einem Stall, raschelnde Mäuse. Pica, die Mutter, hat ihn nur Giovanni genannt, das glaubt er im Dunkeln zu hören.
Kein Mensch-Sein ohne Wanken, kein Lieben auf sicherem Boden: im Roman nur eine Metapher, im wirklichen Leben eine Erschütterung, im Lebensroman gleich beides – das Assisi-Beben, hatte Bühl nachgelesen, war am sechsundzwanzigsten September neunzehnhundertsiebenundneunzig, einem Freitag, achtzehn Minuten vor dem Mittagsläuten. Es hatte die eher geringe Stärke von fünf Komma sieben, forderte aber vier Tote in der Basilika, begraben unter Schutt und den Farben Giottos, während im Hotel Francesco, nur durch eine Rasenfläche von der Tragödie getrennt, ein Paar offenbar lieber das Bett zerwühlte, als
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