Liebe in St. Petersburg
ist er!« brüllte er und zeigte mit dem Peitschenstiel auf Jerschow. »Er hat mich überfallen und zu Boden geschlagen! Revolution! Revolution! Die Ordnung löst sich auf …«
Er wollte weiterlaufen, aber Gregor hielt ihn am Kragen fest, riß ihn zurück und schleuderte ihn gegen die Scheunenwand. Dort blieb Lepkejew keuchend stehen und blickte wild um sich.
General Michejew zog den Kopf tief in den hochgeschlagenen Pelzkragen. Er wandte sich zu Gregor: »Der kleine einfältige Postmeister muß dir sagen, Gregorij, was du hier erlebst: Die Ordnung löst sich auf!«
»Das dort sind Menschen!« antwortete Gregor laut. »Menschen, Wladimir Alexandrowitsch!«
»Verbrecher! Staatsfeinde! In jedem Land der Erde werden Staatsfeinde bestraft!«
»Aber nicht so gnadenlos vernichtet! In Rußland stirbt man hundert Tode, ehe man tot ist!«
»Das ist eben Rußland!« Michejew sagte es gelassen, aber durch den Deutschen fuhr es wie heißer Stahl. Er folgte Michejew, der jetzt mit kurzen schnellen Schritten zu den Gefangenen ging und zwischen die Kessel mit heißem Wasser und dampfender Suppe trat. Jerschow kümmerte sich nicht um ihn und teilte weiter aus. Auch Luschek, aus den Augenwinkeln auf seinen Herrn schielend, tauchte unentwegt die Kelle ein und füllte die hingehaltenen Becher.
Gestammelte Segnungen dankten ihm, Luschek blickte in tränenüberströmte Gesichter, sah den Wald von zitternden Armen und Händen, hörte das Schmatzen der Münder und das schaurige Klirren der Ketten, die dick mit Eis überzogen waren.
»Hört auf!« rief jetzt Michejew hart. Er nahm seiner Frau eine Schüssel aus der Hand und warf sie weit weg. »Hinein ins Haus!«
Anna Petrowna streckte die Hand aus. Aus der Masse von Leibern, Köpfen und Gliedmaßen streckten sich ihr neue Schüsseln entgegen. Klappernd schlugen sie aneinander und wurden zu dem blechernen Lied: Hunger! Hunger! Hunger!
Eine andere Gruppe der Sträflinge sang wieder – schwermütige und doch aufreizende Melodien. Die Kosaken in der großen Scheune wurden unruhig, aber vor ihnen standen noch immer die Reisenden, Waffen in der Hand. Major Schukow wurde durchgelassen und kam zu der Gruppe, wo die Kessel standen.
»Du kannst deinen Pferden befehlen!« antwortete Anna Petrowna stolz ihrem Mann und hielt eine neue Schüssel über den Suppenkessel. Grazina Wladimirowna füllte sie halb – die Suppe, obwohl schon stark verdünnt, reichte nicht aus. »Du kannst deine Ochsen in den Stall treiben oder deine Kulaken auf die Felder, du kannst deine Soldaten in den Tod marschieren lassen, wenn sie so dumm sind wie eine Hammelherde … Mir geh jetzt aus dem Weg, General!«
»Anna …« Michejew wischte sich über das Gesicht. Seine Hand zitterte heftig dabei, und zum erstenmal verspürte Gregor Mitleid mit diesem Mann. Für den General vollzog sich in dieser Nacht der Zusammenbruch seiner Ehe. Er hatte seine Frau – auf die ihm eigene Art – geliebt, und was er an Herz besaß, an geradezu fanatischer väterlicher Liebe, das gehörte seiner Tochter Grazina. Und er hatte fest daran geglaubt, daß sie alle ein gutes Leben führten, daß Gott die Michejews gesegnet habe mit Reichtum, Würde, Ansehen und Glück. Das alles fiel jetzt in die Kessel mit heißem Wasser und Kohlsuppe und wurde an Sträflinge verteilt. Ein jeder Löffel Suppe war ein Stückchen Michejew …
»Du vergißt, wer du bist«, sagte Michejew, schon müder. Der Atem fror ihm auf den Lippen und überzog seinen Bart mit Eiskristallen.
»Du irrst! Ich habe zum erstenmal seit fünfundzwanzig Jahren Gelegenheit, zu zeigen, wer ich bin!« Anna Petrowna nahm neue Becher und Schüsseln an, reichte sie Grazina und Luschek hin und gab sie gefüllt an die herandrängenden Gefangenen zurück. »Weißt du, was ihr Verbrechen ist? Komm du her und sag es ihm!« Sie zog einen hohläugigen schwankenden Sträfling an seiner Handkette heran und schob ihn zwischen sich und den General.
»Erzähle, warum du nach Sibirien mußt!«
Der Verurteilte senkte den Kopf. »Es ändert doch nichts«, sagte er stockend. »Euer Hochwohlgeboren – bleiben Sie unser Engel! Noch Tausende werden diesen Weg ziehen …«
»Er hat ein großes Verbrechen begangen, General!« Anna Petrowna gab dem Gefangenen einen Becher mit heißem Wasser. »In einer Wirtschaft hat er gesagt: ›Nikolai Nikolajewitsch ist der Untergang Rußlands!‹ Mehr nicht.«
»Mehr nicht?« Michejew knirschte mit den Zähnen. »Man hätte ihm gleich den Kopf abschlagen
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