Liebe in St. Petersburg
Gregor kauerte, unfähig, sich zu bewegen.
»Jetzt geht's dir an den Kragen, deutsche Ratte!« brüllte er. »Dir und dem feinen Dämchen, das man anspucken sollte. Betet noch einmal!«
»Bete du!« schrie Grazina. Sie war um die Kutsche herumgekommen und hatte ihr Gewehr hochgerissen. Pjotr fuhr im Sattel herum, der Lauf seiner Waffe schwenkte auf Grazina. Hinter ihrem schützenden Baumstamm sprang Anna Petrowna auf und rannte in heller Verzweiflung zu ihrem Gewehr, das mitten auf dem Weg lag.
Vom gegenüberliegenden Wald feuerte der andere Student, der sich vor Vitali in Sicherheit gebracht hatte. Der Verwundete hatte endlich seinen Stiefel ausgezogen, aber die Schmerzen waren so stark und das angeschossene Bein zitterte so heftig, daß er nach rückwärts sank und halb ohnmächtig in die von der Sonne vergoldeten Baumwipfel starrte.
In diesem Augenblick schoß Grazina. Sie war ganz ruhig und stand mit gespreizten Beinen auf der Straße. Kein Zittern in der Hand, kein flatternder Atem, kein Zucken der Angst … Sie schoß wie auf eine Scheibe. Pjotr zuckte zusammen, als die Kugel in seine rechte Schulter schlug, das Gewehr fiel ihm aus der Hand, er schwankte im Sattel.
»Verseuchtes Luder!« schrie er und versuchte, mit der Linken eine Pistole aus dem Gürtel zu reißen, aber da hatte Anna Petrowna ihr Gewehr erreicht und wirbelte herum.
»Laß ihn mir, Mama!« rief Grazina. »Er ist der, der Gregorij fast getötet hätte. Laß ihn mir …!«
Sie zielte wieder, und Pjotr brach der Schweiß aus allen Poren. Seine Pistole klemmte im Gürtel, und es kam jetzt auf jede Sekunde an.
»Du also bist es!« sagte Anna Petrowna laut. »Was hast du mit Grischa gemacht? Unmenschlich war es!«
Sie schoß, und Pjotr schrie auf. Die Kugel hatte seinen linken Arm getroffen. Jetzt war er wehrlos, in beide Arme getroffen. Mit angstvoll geweiteten Augen sah er, wie Anna Petrowna das moderne Militärgewehr blitzschnell repetierte und erneut auf ihn anlegte.
»Nein – nicht!« brüllte er jetzt. »Ich bin doch wehrlos …«
»Grischa war auch wehrlos«, sagte sie ruhig. »Er war allein, und ihr wart eine ganze Gruppe. Er mußte sich totschlagen lassen wie einen räudigen Hund. Wer hatte Mitleid mit ihm? Ihr habt ihn liegen lassen und seid singend weitergezogen! Singende Mörder!«
»Das ist die Revolution!« schrie Pjotr.
»Das auch, Genosse!« Sie schoß wieder, diesmal in das linke Bein. Pjotr brüllte fast tierisch auf, fiel aus dem Sattel, lag verkrümmt auf dem Waldboden und schlug mit dem Kopf vor Schmerzen auf die Erde. Ungerührt trat Anna Petrowna näher an ihn heran. Wieder knackte das Gewehrschloß; eine neue Patrone schob sich in den Lauf.
»Tu es nicht, Mama!« rief Grazina und ließ ihr Gewehr fallen. »Mama! Gott stehe dir bei …«
»Bleib zurück, Töchterchen!« rief Anna Petrowna dunkel. »Das verstehst du nicht.«
»Du bist keine Mörderin, Mama! Jetzt wäre es Mord …«
»Er hat die Revolution in den Mund genommen! Er spricht von Fortschritt und meint den Terror! Man muß Rußland vor ihm und seinesgleichen schützen!«
Anna Petrowna drückte ab. Der Schuß krachte in Pjotrs rechtes Bein. Er heulte auf, unmenschlich klang es. Dann streckte er sich in den Staub, und sein Körper hüpfte auf der Straße. Alle Nerven waren verkrampft …
»Anna Petrowna …«, wimmerte der Student. »Erbarmen! Erbarmen!«
Sie trat noch näher an ihn heran und beugte sich über ihn. Wie ein erlegtes Raubtier betrachtete sie ihn, mit kalten schwarzen Augen.
»Laß mich leben«, stammelte Pjotr. »Ich bin doch nur noch ein Krüppel …«
»Aber du hast noch ein Hirn – und das ist böse …«
Aus der Kutsche taumelte jetzt Gregor. Er preßte beide Hände gegen seine Brust und starrte entsetzt auf das Bild, das sich ihm bot. Tschugarin stieg vom Kutschbock herunter. Der Student, der vorher in den Wald geflüchtet war, warf sein Pferd herum und galoppierte davon. Er hatte wohl eingesehen, daß Pjotrs Leben keine Kopeke mehr wert war. Der Verwundete auf der anderen Seite war endgültig in Ohnmacht gefallen.
Mit einer tiefen Verbeugung blieb Tschugarin vor Anna Petrowna stehen. »Euer Hochwohlgeboren«, sagte er, »die Kutsche kann weiterfahren. Das kleine Hindernis ist sofort beseitigt …«
Er schoß Pjotr in den Kopf, bückte sich, packte ihn an den Beinen und schleifte den Leichnam von der Straße an den Waldrand. Anna Petrowna senkte den Kopf und ging langsam zur Kutsche zurück. Dort lehnte Gregor an einem
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