Liebe Isländer: Roman (German Edition)
gearbeitet und gearbeitet hatte. Dass das Leben ungerecht zu ihm war, im besten Fall ab und zu ein Würstchen rot-weiß-komplett. Dann besann ich mich aber meiner eigenen Scheinheiligkeit. Was hatte er denn verpasst? Reykjavík? Kaffibarinn? Mein Leben? Er spürte, dass ich ihn anstarrte, und sah auf. Betrachtete mich vom Scheitel bis zur Sohle. Wir sahen uns in die Augen, aber nach einer Weile lächelte er amüsiert und sah weg. Worüber amüsierte er sich? Was dachte er? Über mich?
Er hat es verpasst, an drei der langweiligsten Orte des Landes aufzuwachsen, in Kópavogur, Grafarvogur und Garðabær – alle drei an der Peripherie von Reykjavík. Er hatte fünfeinhalb Jahre am M.-H.-Gymnasium verpasst und vier Jahre eines noch unvollendeten Studiums der Literaturwissenschaft. Eine Stunde Gitarrenunterricht, eine Bassstunde und eine Schlagzeugstunde, die damit endete, dass ich mir ein Schlagzeug kaufte, das ich nach drei Monaten schrecklichen Krachs allerdings wieder vertickte, um mir einen Fotoapparat zuzulegen. Er hatte zwei Jahre Reykjavík-Geschlendere mit dem Apparat auf der Schulter verpasst, bis ich auch die Kamera wieder verkaufte, in der Absicht, das Fliegen zu lernen. Die Flugausbildung brach ich schon nach zwei Stunden wieder ab: Flugangst. Er hatte ein missglücktes Italienisch-Studium in Rom verpasst, endlose Kapriolen und ständigen Interessenverlust. Dies alles hatte er verpasst, und daher war es vielleicht nicht verwunderlich, dass er amüsiert lächelte.
Der Benzinverkäufer sagte mir, dass die einzig befahrbare Straße nach Ísafjörður über die Laxárdalsheiði führe, nach Norden in den Hrútafjörður, an Hólmavík vorbei und von dort über die Steingrímsfjarðarheiði. Dann brachte er mir eine Kleinigkeit bei, die meine Reise total verändern sollte: das Straßenamt anzurufen, um Wetter und Straßenzustand in Erfahrung zu bringen. Als ich die Strecke auf der Karte studierte, sah ich, dass es knapp vierhundert Kilometer bis Ísafjörður waren. Ich wollte versuchen, vor dem Dunkelwerden bis Hólmavíkzu kommen, dort zu übernachten und dann am nächsten Tag nach Ísafjörður weiterzufahren.
Die Laxárdalsheiði ist ein öder Ort, aber sie lässt sich leicht fahren, weil sie nicht sehr steil ist und die Aussicht gut. Es gibt bloß nichts zu sehen. Außer etwas Weißem, das mit etwas noch Weißerem zusammenfließt. Bald sah es in meinem Kopf genauso öde aus. Nichts los. Und ich fuhr einfach und fuhr und vergaß, dass ich existierte.
Der Weg nach Norden in den Hrútafjörður war etwas abwechslungsreicher. Dort gab es zumindest etwas. Höfe, Kirchen, Pferde blickten auf, Hunde bellten das Auto an, jedoch war keinerlei Verkehr auf der Strecke und keine einzige Kreatur auf den Höfen zu sehen. Kurz bevor ich nach Hólmavík kam, wurde ich irgendwie von einer Gier nach Kilometern gepackt, und ich wäre sicherlich weitergebraust, wäre der Tank nicht fast leer gewesen. Ich wollte den Kilometerzähler weiterzählen sehen. Nicht unbedingt, um weiterzukommen. Es war nur Gier, und mir war so, als eignete ich mir mit jedem gefahrenen Kilometer mehr vom Land an, würde ein bisschen mehr Isländer. Sich die Zahlen langsam nach oben drehen zu sehen war so berauschend, fast hypnotisierend.
Ich setzte mich in die Tankstelle in Hólmavík und dachte über die Weiterfahrt nach. Und jetzt ist die Gelegenheit, all das Rumgehänge in den Tankstellenkiosken zu erläutern, denn es wird nicht weniger werden. Das Herz jeder einzelnen Siedlung draußen auf dem Lande ist der Tankstellenkiosk, der meistens an einem der beiden Enden des Ortes steht. Ihm kommt eine wesentlich größere Rolle zu, als einfach nur Tankstelle und Kiosk zu sein. Oft ist er zugleich Videothek, Ersatzteilhandel, Supermarkt und Spielhalle. Und natürlich Kaffeehaus und Nachrichtenzentrale des Ortes. Jeden Tag kommt eine große Zahl der Ortsansässigen hier vorbei, um eine Tasse Kaffee zu trinken und Nachrichten mit den Verkäuferinnen auszutauschen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie charmant und professionell sind, diese Verkäuferinnen. Ihre Tätigkeit ist eine der bedeutendsten im Ort und nichts für sechzehnjähriges Gemüse, das sich nicht merken kann, wasdieser oder jener gesagt hat, oder die Fakten verdreht. Der Tankstellenkiosk ist daher der beste Posten für Zugereiste, um ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Der Tankstellenkiosk ist auch eine isländische Variante des amerikanischen Diner, und dort fahren die Einwohner
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