Liebe Isländer: Roman (German Edition)
sogar hin, wenn sie zum Essen ausgehen.
Außerdem entsteht oft eine wunderbare Atmosphäre, wenn so vieles zusammenkommt. An einem Tisch sitzen vielleicht zwei Fernfahrer und reden über die Straßenverhältnisse, am nächsten sitzt ein Paar und isst auswärts, in der Ecke fordert ein Jugendlicher am Spielautomaten das Glück heraus, während seine Mutter gerade einkauft. Und dann noch einer, der sich mit der Kassiererin unterhält und sich dabei ein Video aussucht. Hier spielt das Leben. Zudem ist der Tankstellenkiosk häufig die einzige Adresse im Ort, die auch abends »Offen« sein kann.
Manchmal kann die Atmosphäre in diesen Kiosken auch zu persönlich werden, und man fühlt sich wie mitten in der Wohnstube irgendeines Dorfbewohners. Während ich dasaß und im Kiosk von Hólmavík Kaffee trank, gingen die Kassiererinnen gerade die letzten Neuigkeiten durch. Ein Mädchen aus dem Dorf hatte in der Nacht entbunden, und alles war gut gegangen. Bald darauf kam ein Mann mittleren Alters in Arbeitsmontur herein, um Zigaretten zu kaufen. Die Verkäuferinnen gratulierten ihm herzlich, doch er hatte keine Ahnung, wovon sie eigentlich sprachen.
»Herzlichen Glückwunsch wozu?«
Sie schwiegen und wurden verlegen, und dann sagte die eine: »Hast du es noch nicht gehört? Deine Tochter hat heute Nacht entbunden.«
»Hat man dir noch nicht Bescheid gegeben?«, fragte die andere verwundert. Der Mann war sichtlich getroffen. Er sah sie abwechselnd an und antwortete: »Ich erfahre nie was«, bezahlte dann die Zigaretten und eilte hinaus.
Sie blickten ihm nach, bis er sich ins Auto setzte und davonfuhr, dann sagte die eine der beiden: »Die haben ihm nicht mal Bescheid gegeben. Das ist gemein.«
Plötzlich befand ich mich mitten in einem Familiendrama und konnte mir den Rest irgendwie vorstellen. Alle, die hereinkamen, erfuhren von der jüngsten Tochter des Ortes. Doch ich bemerkte, dass diese professionellen Verkäuferinnen das Vorkommnis, dessen ich Zeuge geworden war, nicht erwähnten. Wie ich bereits sagte, ist diese Tätigkeit nichts für taube Nüsse, und es ist wichtig, abwägen und beurteilen zu können, was durch das ganze Dorf getragen werden darf und was nicht.
Ich hatte vor, diese Nacht im Auto zu schlafen, und ging zur Sporthalle, um unter die Dusche zu kommen. Obwohl der hippiemäßige Hauswart es kaum glauben wollte, dass jemand »zu dieser Jahreszeit« auf Reisen wäre, war er überaus freundlich und sagte, ich könne »on the house« duschen. In der Halle blies der Frauenverein von Hólmavík Luftballons auf, und der Hauswart erzählte mir von Þorrablót, dem traditionellen Winterfest, das hier am nächsten Tag veranstaltet würde. Den Frauen war mein Blick in den Saal offensichtlich unangenehm. Die Dekoration sollte eine Überraschung werden.
Ich wusch die Laxárdalsheiði von mir ab und fuhr im Ort herum. Freundlicher Dorfcharme in Hólmavík. Ein hoher Hügel teilt den Ort in zwei Hälften, auf ihm erhebt sich die Kirche, und unterhalb gähnt der Hafen. Daneben befindet sich ein dunkles, heruntergekommenes Viertel. In dessen Mitte steht Matthildas Gast- und Wirtshaus, ein alter, gelber Bau an einer schönen Stelle am Meer.
Als ich eintrat, dachte ich zuerst, ich hätte mich in der Tür geirrt und wäre in eine Wohnung eingedrungen. Im Eingang lag ein Haufen Schuhe, Arbeitsjacken und Anoraks hingen an ihren Haken, und Handschuhe hielten sich an einem kleinen Ofen fest. Eine füllige Frau kam mir entgegen und wünschte mir einen guten Abend.
»Guten Abend. Ist das hier das Hotel …?«
»Ja.«
»Und ist es möglich, noch etwas zu essen zu bekommen?«
»Wie wäre es mit Fisch? Ich kann dir gerne Fisch braten.«
»Gern. Hast du auch eine Menükarte?«
»Natürlich. Ich hab nur die Küche schon geschlossen. Ich könnte dir, wie gesagt, aber Fisch braten.«
»Ja, Fisch? Ja, das hört sich gut an. Ich nehme Fisch.«
Sie zeigte mir den Weg in den Speisesaal: »Setz dich, wo du willst« und verschwand dann durch die Küchentür. Ich setzte mich und sah in einigen Metern Entfernung einen Mann gemütlich auf dem Sofa liegen und mit seiner Tochter fernsehen. Ich wünschte einen guten Abend. Er sah kurz auf: »Ja, guten Abend.«
Während ich Fisch mit Pommes aß, saß die Hotelleiterin mit den beiden anderen in der Fernsehecke, und wir spielten alle, dass wir nichts voneinander wüssten. Als ich aufgegessen hatte, kam sie die zwei Schritte zum Tisch, nahm den Teller und fragte: »Wie fandest du das
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