Liebe ist staerker als Haß
Laut zu hören war, merkte er, daß sie weinte. Er setzte sich auf den Bettrand und nahm sie in die Arme. Sie schlief noch. Ob sie oft im Schlaf weinte? Weinte sie immer so lautlos?
Er drückte ihren nur in dünnes Leinen gehüllten Körper an seine nackte Brust und wiegte sie. Wie ein Kind, das sie ja vor kurzem noch gewesen war, schmiegte sie sich an ihn. Heiße Tränen benetzten sein dichtes Brusthaar. Er hätte sie wirklich noch für ein Kind halten können, wenn er nicht durch den Stoff gefühlt hätte, daß sie ihre Brüste wieder fest eingeschnürt hatte.
So hielt er die Weinende umschlungen und fragte sich, warum sie wohl im Schlaf Tränen vergoß.
Severn war noch vor Tearle aufgewacht. Er wußte sofort, daß seine Schwester weinte, denn sie weinte oft im Schlaf, genau wie ihre Mutter. Doch er ging nicht zu ihr. Er lag ruhig da, bereit, erst dann zu ihr zu gehen, wenn sie ihn brauchte. Aber er unternahm keinen Versuch, ihrem Weinen Einhalt zu gebieten.
Dann hörte er, wie Smith sich bewegte. Als der Mann aufstand, legte Severn die Hand an das Schwert neben seinem Bett. Warum schlich der Mann nachts umher? Als Smith zu Zared ging, wollte Severn schon ein Messer gegen ihn zücken. Aber dann wartete er doch lieber ab und sah, wie Smith Zared in die Arme nahm.
Severn hielt verwundert die Luft an. Woher wußte der Mann, daß Zared weinte? Außer Zared konnte nur er, Severn, es hören, wenn sie im Schlaf weinte. Keiner ihrer anderen Brüder hatte je etwas von ihren nächtlichen Tränen bemerkt. Dieser Mann aber hatte es gemerkt.
Severn beobachtete die beiden schattenhaften Gestalten und entspannte sich. Er dachte an Liana. Seine Schwägerin verstand mehr, als er ihr zugetraut hatte. Und sie hatte Smith ausgewählt. Vielleicht wußte sie, daß er der richtige Mann für Zared war.
Severn sah, wie Smith seine Schwester in den Armen hielt. Er erinnerte sich nur allzu gut jener Jahre, in denen Zareds Mutter nachts geweint hatte. Nur ungern hatten seine Brüder ihre lauten, unglücklichen Klagen mit angehört. Sie hatten sie sogar auf ihre Weise zu trösten versucht. Etwa ein Jahr lang hatten sie ihr Weinen ohne Widerrede ertragen. Aber im zweiten Jahr ihrer Ehe mit seinem Vater hatten sie von ihr verlangt, sie solle damit aufhören. Die einzige Wirkung ihrer Worte war, daß sie noch häufiger weinte.
Es war allein Severn, der versucht hatte, die Tränenflut der Frau zu stillen. Er war damals ein großer, kräftiger Junge von zehn Jahren. Seine eigene Mutter war schon lange tot, aber die Tränen der Stiefmutter bewegten ihn. Darum pflegte er nachts die Treppe hinunterzuschleichen, in ihr Gemach zu gehen und zu ihr ins Bett zu kriechen. Ihr eigenes Kind Zared, die einzige Tochter, die sein Vater je gehabt hatte, war ihr gleich nach der Geburt weggenommen worden. Wenn er in ihr Bett kam, klammerte sie sich an ihn und drückte ihn so fest an sich, daß er dachte, sie würde ihm ein paar Rippen brechen. Doch dazu kam es nie. Ja, er merkte, daß sie in den Nächten, da er bei ihr war, besser schlafen konnte.
Er hatte große Angst vor dem, was seine älteren Brüder und sein Vater zu ihm sagen würden, wenn sie entdeckten, daß er eine weinende Frau tröstete. Aber seine Stiefmutter hatte es keinem erzählt, und wenn er ihr, selten genug, tagsüber begegnete, machte sie nie eine Anspielung darauf, daß er manchmal nachts zu ihr kam.
Dafür fand er manchmal Obst in seiner Kammer oder eine Süßigkeit neben dem Bett. Und als er im Jahr 1434 schwerkrank wurde, hatte sie Tag und Nacht bei ihm gesessen, ihn gepflegt, ihm löffelweise heiße Brühe und bitter schmeckende Heilkräuteressenzen eingegeben. Er war noch nicht wieder ganz bei Kräften, als sie mit seinem Vater und dessen ältestem Bruder William die Burg Bevan aufsuchte.
Dann hatten die Howards Bevan belagert und sie ausgehungert. So fielen seine Stiefmutter, sein Vater und William tot in die Hand der Howards.
Später hatten Severn und seine übrigen vier Brüder beschlossen, Zared als Knaben aufzuziehen, um sie vor den Howards zu schützen. Vielleicht hatte sie die Erinnerung an den Hungertod dieser armen, weinenden Frau dabei beeinflußt. Der Gedanke, daß sie nicht fähig gewesen waren, eine schwache Frau zu schützen, war ihnen unerträglich. Vielleicht erinnerten Zareds hübsches Gesicht mit den langen Wimpern, ihr helles Haar, ihre lächelnde Art sie zu sehr an ihr Versagen.
Es gab Zeiten, da Severn meinte, daß sie zu hart mit Zared umgingen. Doch dann
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