Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe, lebenslänglich

Liebe, lebenslänglich

Titel: Liebe, lebenslänglich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula von Arx
Vom Netzwerk:
Urteil endgültig: Ich hatte einen Vater, und der war ein Arschloch.«
    Cord Riechelmann ist 53 Jahre alt und lebt in Berlin direkt gegenüber dem Viktoriapark in einer Wohngemeinschaft, die sich vom Schneidersitz und der billigen Rotweinflasche längst verabschiedet hat. Man legt hier Wert auf Sauberkeit, Stil und Manieren. In seinem Zimmer gibt es einen Tisch, einen Stuhl, ein Bett und sehr viele Bücher. Er hat ein Studium der Philosophie und ein Studium der Biologie hinter sich und Reisen auf der ganzen Welt. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Lehraufträgen, Lesungen, Büchern, Reportagen. Er gehört heute zum feinsprachlichen, feinnervigen, weltoffenen Reich des großstädtischen Prekariats. Er hat einen weiten Weg zurückgelegt von dem niedersächsischen, kleinbürgerlichen Jäger- und Schlachterhaushalt, in den er hineingeboren wurde und in dem das Schweigen, die Schreie und die Schläge seines Vaters herrschten.
    Manchmal staunt er, dass er überhaupt sprechen gelernt hat. In seiner Erinnerung war seine Kindheit sprachlos. Gedanken blieben schwer im Kopf hängen oder implodierten unter den Flüchen des Vaters. Cord Riechelmann kann sich an kein einziges Gespräch mit seinem Vater erinnern, in dem man etwas von sich gegeben oder sich ausgetauscht hätte. Weder als Kind noch als Jugendlicher noch als Erwachsener: »Mit meinem Vater konnte man nicht reden.« Sein Vater habe ihn nicht als ein Wesen mit Bedürfnissen, Eigenschaften, Wünschen und Ideen wahrgenommen, sondern einzig in den Kategorien Gehorsamkeit oder Ungehorsamkeit: »Wenn ich gehorchte, war ich für ihn berechenbar, also nicht des Nachdenkens wert. Wenn ich nicht gehorchte, prügelte er auf mich ein.« Er ging seinem Vater aus dem Weg. Zugleich, erinnert sich Cord Riechelmann, war er ein gewöhnlicher Junge, der die Bestätigung seines Vaters suchte: »Ich wollte, dass er mir seinen Segen erteilt, absolut.«
    Doch sein Vater verteilte Prügel, Befehle und Drohungen. Und er teilte sich mit durch Gebrüll und Wutausbrüche. Seine Exzesse seien nicht einer Laune entsprungen, sondern einem Bedürfnis nach Kontrolle. »Mein Vater hat eine Stimmungsdiktatur ausgeübt, eine frohe, entspannte Atmosphäre ließ er nicht zu.« Sogar Feste mussten freudlose Veranstaltungen sein: »Ich habe später lange gebraucht, um Weihnachten feiern zu können.«
    Von seiner Mutter war nicht zu erwarten, dass sie diesem Mann, der im Grunde das Leben verbot, etwas entgegensetzte. »Sie kam mir in diesem System aufgehoben vor.« Jedenfalls habe sie keine aktive Rolle gespielt, er habe nie erlebt, dass sie ihre Kinder verteidigt hätte: »Es mag hart klingen, doch sie war ein Neutrum.«
    Das Haus, in dem er aufwuchs, war für Cord Riechelmann ein derart glücksfernes Terrain, dass es ihm jahrelang schwerfiel, sich an einem Ort einzurichten und wohlzufühlen: »Zu Hause sein, das war für mich nicht positiv besetzt.« Erst über seine Tochter habe er festgestellt, dass kleine Kinder immer gleiche, ihnen zugeordnete Räume brauchen und dass das etwas Schönes sein könne.
    Mit 21 Jahren hatte Cord Riechelmann die Schule beendet und zog von zu Hause weg. Trotz des tyrannischen Vaters wäre es falsch, sein Leben bis dahin als ein einziges Angstblinzeln zu summieren. Es gab Lichtblicke. Unter dem gleichen Dach wohnten die Mutter des Vaters und dessen Schwester: »Und die waren, glaub ich, ganz okay.« Und da war sein zwei Jahre jüngerer Bruder, der zwar gefügiger war als er, mit dem er aber einen Leidensgenossen an seiner Seite hatte. Außerdem litt Cord Riechelmann bis zum Alter von zwölf Jahren unter Geburtsasthma, war überhaupt ein anfälliges und äußerst dünnes Kind, was zur Folge hatte, dass er jedes Jahr für sechs Wochen zu seinen Großeltern mütterlicherseits zur Kur fahren durfte, »und das waren sehr reizende Leute«.
    Vor allem aber konnte sich Cord Riechelmann früh eine Welt schaffen, zu der die Eltern keinen Zugang hatten, »da habe ich wohl wirklich Glück gehabt«. Er verbrachte viel Zeit in ihrem großen Garten. Er sah, wie die Pflanzen wuchsen und verdorrten, er beobachtete die Elstern und die Spatzen, verfolgte die Spuren der Füchse, installierte einen Brutkasten für die Enten und sah die Jungen schlüpfen. »Ich bin von den Enten sozialisiert worden«, sagt er und lacht. Aber es ist ihm ernst. Denn als seine heute zwölfjährige Tochter geboren wurde, fürchtete er sich nicht vor Wiederholungszwängen. Er war frei von der Angst, er könne ein

Weitere Kostenlose Bücher