Liebe, lebenslänglich
die innere Kraft besitze, sie zu stützen: »Diesen Gedanken habe ich mitgenommen. Er hat mir geholfen.«
Die innere Kraft, oder vielmehr die Anlage dazu, war wohl tatsächlich da. Aber sie hatte einen Weg zurückzulegen von der erschreckten Mutter zu einer, die ihre Tochter mit Ruhe und Freude betrachtet. Auf diesem Weg habe sie vor allem von einer Person gelernt, sagt Regula Mattmüller, nämlich von Sofia. Sie hat von ihrem Blick gelernt, etwa damals, als sie das noch ganz kleine Baby mit Öl eingerieben und massiert hat. Sofia habe sie da unvermittelt angeschaut, »mit viel Stärke und Weisheit im Ausdruck. Das war ein sehr spezieller Moment, ich war danach ganz ruhig.« Auch mit ihrer Unbefangenheit half Sofia ihrer Mutter. Denn Regula Mattmüller haben die Blicke anderer Menschen auf ihre Tochter wehgetan. Sie reagierte mit einer Mischung aus Kränkung, Wut und Angst und musste lernen, diese Gefühle abzuwehren. »Sofia aber ignorierte die Neugier und die Kommentare und machte einfach weiter. Sie ist nie in Selbstmitleid verfallen.« Es gab noch einen Augenblick, der Regula Mattmüller im Rückblick zentral scheint: Als Sofia laufen lernte. »Als ich sah, wie sicher sie auf dem Boden stand, überkam mich das Gefühl, dass ich Sofias Freude mit meiner Angst entwertete. Ich realisierte, dass meine Angst in keinem Verhältnis stand zu ihrem Lebenswillen. Ich verstand plötzlich nicht mehr, wieso ich mir so viele Sorgen machte.«
Regula Mattmüller scheint darauf bedacht, dem, was andere als große Prüfung betrachten würden, ein kleinwüchsiges Kind, eine hellere Einschätzung zu geben: Anderssein als Glück. Sie glaubt heute, dass Sofias Frohsinn mit ihrer Konstitution zusammenhängt. Sie ist erleichtert, dass sie nicht schon während der Schwangerschaft wusste, was auf sie zukommen würde, denn sie weiß nicht, wie sie damals reagiert hätte. Ihr sei, als ob ihre Tochter ihr eine wichtige Lektion fürs Leben erteilt hätte: Sorge dich nicht auf Vorrat. Allerdings musste sie offen sein für diese Lektion. Sie sagt, dass ihr Sofia mit ihrem sonnigen, bodenständigen Wesen sehr geholfen habe. »Dank ihr habe ich Schritt für Schritt die Zuversicht gewonnen, dass ich für sie eine gute Mutter sein kann und dass sie ein eigenes Leben führen wird mit hellen und dunklen Tagen, ein ganz normales Leben eben, einfach in einem etwas kleineren Körper.«
Tatsächlich scheint sich Sofia Hefti – sie trägt den Namen ihres Vaters –, mit ihrer Kleinwüchsigkeit nicht mehr zu beschäftigen als mit ihrer Augenfarbe. Wenn man sie bittet, sich selber zu beschreiben, dann sagt sie, sie sei ein recht fröhlicher und zuversichtlicher Mensch, sie sei unkompliziert, offen und trotzdem vorsichtig. Sie kenne ihre Grenzen. Sie brauche viel Zeit für sich, in der sie Musik höre, Chillout oder Hip-Hop. Ihr sei es nie langweilig mit sich allein.
Sofia lacht ein bisschen und denkt nach. Wenn sie lacht, zeigt sie große, glänzende Zähne. Dann fährt sie fort, sich zu beschreiben, indem sie von ihrer Mutter spricht und ihrer Beziehung zueinander. Ihre Mutter sei ähnlich wie sie, offen, fröhlich, relativ unkompliziert, und ihnen beiden sei das soziale Umfeld wichtig. Streit gebe es kaum, sie fühle sich ihrer Mutter sehr nah. Wenn sie erzählt, schaut sie einem in die Augen, sie ist sehr direkt. Auch mit ihrem Bruder Sebastian streite sie selten. Sie sei froh, einen älteren Bruder zu haben, er sei ein sehr wichtiger Mensch für sie, obwohl sie nicht über Persönliches reden. Sie könnte es womöglich tun, tue es aber nicht, es sei nicht diese Art Beziehung. Er habe immer zu ihr gestanden, auch öffentlich. Als die Behindertenorganisation Pro Infirmis sie mal anfragte, bei der Plakatkampagne »Wir lassen uns nicht behindern« mitzumachen, habe er sich ohne Zögern mit ihr fotografieren lassen. Sofia macht eine längere Pause, sie hat keine Angst vor Pausen, und beschreibt dann ihr Verhältnis zu ihrem Vater. Der sei ihr ebenfalls wichtig. Sie stritten sich öfter wegen Kleinigkeiten. Ihre Eltern seien geschieden, sie habe sich an den Zustand gewöhnt, der Vater wohne nur fünf Minuten von ihrer Wohnung entfernt, wenn sie ihn treffen wolle, könne sie das jederzeit tun. Manchmal würde er für sie kochen und wenn sie kurzfristig absage, sei er nicht erfreut, das könne sie verstehen.
Sofia hat jetzt bestimmt schon fünfzehn Minuten von sich erzählt. Wenn man ihr gegenübersitzt, fallen einem sehr schnell andere Dinge auf, als
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