Liebe, lebenslänglich
ihre Mutter nie geliebt habe. Eine dritte Erklärung für ihre mangelhafte Hingabe findet Marlene Nowak in ihrer Jugend: »Ich war sehr unerfahren. Überfordert. Ich hätte selber Hilfe gebraucht.«
Natürlich habe sie als Kind die Unstimmigkeiten zwischen ihren Eltern mitbekommen, sagt Adriana Nowak. Sie habe erlebt, wie ihre Mutter sich von Hoffnung zu Hoffnung hangelte, ihr Mann würde das Trinken aufgeben und arbeiten. Sie sei froh gewesen, als ihr Vater seine letzte Chance verspielt und ihre Mutter mit ihr die Wohnung verlassen habe. Und selbstverständlich habe sie es als ihre Aufgabe gesehen, ihrer Mutter in dieser Zeit nicht zusätzlich Kummer zu bereiten. »Ich war kein schwieriges Kind. Nie frech, sondern fröhlich und kontaktfreudig.« Auch ihre Pubertät sei ohne Exzesse verlaufen. »Im kindlichen Größenwahn fühlte ich mich zuständig für das Glück meiner Mutter.« Und vielleicht hätte sie ihr sogar helfen können, denkt sie. »Ich bin ja ihr Kind, ich hätte sie trösten können.«
Doch ihre Mutter habe keine Hilfe zugelassen. »Marlene ist kein emotionaler Typ.« Wut zeige sie zwar, aber alles Verletzliche verberge sie. »Sie behandelt ihre Ängste wie ein Staatsgeheimnis.« Ein einziges Mal nur habe sie Marlene weinen gesehen. Sie weiß bis heute nicht, ob ihre Mutter sie nicht belasten wollte oder konnte. Ob ihre Unzugänglichkeit Rücksichtnahme war oder Blockade.
Die strikte Zurückhaltung ihrer Mutter in Momenten der Schwäche blieb: »Wenn es ihr schlecht geht, merkt man es irgendwie, reden tut sie nicht darüber.« Adriana Nowak würde es als Anerkennung ihres Erwachsenseins betrachten, wenn Marlene ihr ihre Gefühle zeigen würde. Ihre Mutter behandle sie jedoch immer noch als Tochter. »Ich wünschte mir, sie sähe mich als Freundin.«
Adriana Nowak vergleicht. Sie stellt fest, dass ihr Bruder Alexander es am besten habe mit einem ihn liebenden Vater, einer ihn liebenden Mutter und einer ihn liebenden Schwester. Sie selbst habe es am zweitbesten, denn sie habe eine Mutter, auf die sie zählen könne. Ihre Mutter hingegen habe das schlechteste Los gezogen, weil sie ganz ohne Unterstützung auskommen musste.
Doch auch Adriana Nowak fühlte sich schutzlos, als sie 21 Jahre alt war und sich plötzlich allein in Berlin wiederfand. Ihre Mutter war mit ihrem Mann und dem Baby nach Brüssel gezogen. Ihr damaliger Freund und heutiger Mann arbeitete in London an seiner Karriere. Sie war immer gern zur Schule gegangen, aber jetzt hatte sie ihr Abitur und wusste nicht, was anfangen damit. Sie entschied sich halbherzig für ein Geografiestudium. »Vor allem spürte ich, dass alles außer Kontrolle gerät. Und dass das Essen das Einzige ist, was ich noch kontrollieren kann.«
Marlene Nowak erinnert sich, dass Adriana ihre Magersucht zunächst mit einer ambulanten Therapie zu bekämpfen versuchte. »Als sie uns das nächste Mal besuchte, war sie noch dünner geworden und sehr gereizt, Alexander heulte die ganze Zeit, und ich stritt mich mit meinem Mann.« Zwei Monate später war Weihnachten und Adriana kam nach Brüssel. »Und da war sie am Ende.« Marlene Nowak sieht ihre dünnen Hände vor sich und wie sie ihren Körper in fünf Pullover hüllte und immer noch wie ein Strich aussah. »Sie war mir so fremd. Es war mir nicht möglich, sie in den Arm zu nehmen.«
In nächtelangen Diskussionen konnten sie und ihr Mann Adriana von einer stationären Behandlung überzeugen. Adriana wünschte, dass ihre Mutter sie in die Klinik begleitete. Marlene Nowak war unsicher. »Ich überlegte lange, weil ich nicht wusste, ob Adriana mich manipulierte, oder ob es die Art von Versicherung war, die sie jetzt brauchte.« Schließlich brachte sie ihre Tochter hin, sprach mit ihrer Psychotherapeutin, »eine ganz bodenständige Person, und ich dachte, das ist genau das Richtige für Adriana«. Es war es: »Die Magersucht war ein Hilfeschrei: Ich bin auch noch da! Vergesst mich nicht! Mir wurde klar, dass Adriana mich immer noch sehr braucht. So sehe ich das heute.«
Sie habe noch nie so viel geheult und noch nie so viel gelacht wie in diesen drei Monaten in der Klinik, sagt Adriana Nowak. Sie habe gelernt, dass Essen oder Nichtessen nicht Ausdruck von Emotionen sein dürfe. Sie habe Ängste und Abhängigkeiten aufgearbeitet und begriffen, dass sie sich selbst zum Verschwinden bringe, wenn sie ihr Leben auf den Applaus anderer ausrichte. »Und nicht zuletzt habe ich mich mit meiner Magersucht ein Stück weit von
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