Liebe, lebenslänglich
und überall Misstrauen sei. Denn auch unter den Häftlingen gebe es Aufpasser, die um den Preis kleiner Privilegien bereit seien, andere zu denunzieren. Schnell sei ein halber Satz ein ganzer zu viel. Dieses elende Leben halte man nur aus, wenn man ihm ab und zu entweichen könne. In ein freundliches Gesicht zu blicken, gestreift zu werden von einem Lächeln, einem unvoreingenommenen Lächeln ohne Hintergedanken – furchtbar banal, aber das empfinde er als das größte Geschenk, und das sei innerhalb dieser Mauern nur im Besuchsraum zu haben. Deswegen sei er so sehr auf die Begegnungen mit seiner Familie angewiesen. Seine geistige und seelische Verfassung hänge wesentlich davon ab.
Unabdingbar ist dabei für ihn, dass die Besuche nach gewissen Regeln verlaufen: »Die kritischen Punkte immer am Anfang. Das absolute Verbot: Im Streit auseinandergehen. Passiert es doch, sitze ich ein, zwei Wochen da, und es gärt. Das reine Gift. Die Hölle.« Kürzlich vergaß sein Vater, ein Telefonat zu machen, um das er ihn gebeten hatte, da geriet er so sehr in Rage, dass er sich noch nicht wieder beruhigt hatte, schon war die Besuchszeit um. Bence Toth konnte die Nachlässigkeit seines Vaters nicht fassen: »Was ihn eine Minute kostet – zum Hörer greifen, Nummer wählen, fertig –, kostet mich ein halbes Jahr!« Für jeden Brief muss er eine Bewilligung einholen. Kriegt er sie, ist er nicht sicher, ob seine Post den Adressaten wirklich erreicht. Manche Briefe würden einfach verschwinden. Schicke er den Brief per Einschreiben, wecke er die Wachhunde, außerdem koste es Geld, was er, bei einem symbolischen Verdienst von einem Euro die Stunde, nicht habe, alles unendlich kompliziert. Ja, und da sei er wegen dieses Telefonats eben ausgerastet.
Fehlendes Einfühlungsvermögen legte seine Familie in seinen Augen auch beim Herzinfarkt seines Vaters an den Tag. »Nach dem Krankenhausaufenthalt kam er mich besuchen, er sah blass und mitgenommen aus«, sagt Bence Toth. Der Zustand seines Vater habe ihn sehr beunruhigt, und er hätte von seiner Mutter erwartet, dass sie ihn im Minimum mit einer Postkarte auf dem Laufenden halten würde: »Blutdruck des Vaters, Puls des Vaters, Vater lebt, Gruß Emese – etwas in der Art.« Doch nichts dergleichen. Bence Toth schlägt wiederholt mit seiner rechten Faust in seine linke Hand: »Was meinen die eigentlich, was ich dann in meiner Zelle mache?« Ihm gegenüber zu schweigen in einer solch prekären Situation, das sei, als werfe man ein brennendes Streichholz in ein Benzinfass.
Er wisse, dass sein Vater sich in solchen Momenten von einem großen Taktgefühl leiten lasse. Er bemühe sich da jeweils sehr, den Sohn nicht unnötig zu belasten. Doch leider mache das alles nur schlimmer: »Seine Rücksichtnahme ist in meinem Fall total kontraproduktiv.« In der Welt, in der er jetzt lebt, hat Bence Toth ein ausgreifendes Sensorium für Spannungen und Unstimmigkeiten entwickelt, und das wirkt sich auch auf die Beziehung zu seinen Nächsten aus. Er habe in Straubing gelernt, immer auf der Hut zu sein, weil er sich hier auf niemanden verlassen könne. Wenn in ihm nun der Verdacht aufsteigt, dass auch seine einzigen und engen Vertrauten ihm etwas verschweigen, dann gerät seine Welt, die er Tag für Tag mit viel Disziplin verteidigt, aus den Fugen. Sobald die Tür seiner Zelle verschlossen wird und er mit sich alleine ist, kann er seine Ahnungen nicht mehr in Schach halten. »Ich liege in meinem Bett«, sagt er, »und finde keine Ruhe.« Das Unausgesprochene spukt in seinem Kopf und wird immer größer, und die Wirklichkeit lässt sich kaum mehr unterscheiden vom Wahn: »Die Grenze zur Paranoia ist näher, als man denkt, und kann manchmal ziemlich durchlässig sein« – das hat Bence Toth Sohn im Gefängnis erfahren.
Bence Toth Vater war ganz gerührt, als er erfuhr, dass sein Sohn fast verrückt geworden wäre aus Sorge um ihn: »Das beweist doch, wie sehr er an mir hängt.« Und er hat jetzt verstanden: »Schlechte Nachrichten müssen in Zukunft auf den Tisch.« Gesundheitlich geht es ihm inzwischen wieder besser.
Trotzdem, so ein Herzinfarkt kommt nicht von ungefähr, erst recht nicht bei seinem trainierten 65-jährigen Vater, glaubt Sohn Toth. Seit er hinter Gittern sitzt, hat er bereits seinen Großvater und seine Großmutter mütterlicherseits verloren. Es gibt dafür biologische Gründe. Sie waren nicht mehr jung. Bence Toth macht die Umstände mitverantwortlich: »Dass meine
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