Liebe, lebenslänglich
nachzuvollziehen versuche, merke ich, wie sehr ich schon abgebaut habe.« In der Zelle gibt es einen Fernseher, er schaut nur selten: »Mit Fernsehen verblödet man noch schneller als ohne.« Auch körperlich will Bence Toth sich fit halten. Täglich ab halb vier, nach der Arbeit in der Gefängnisdruckerei, dreht er seine Runden im Hof, 108 Meter und noch einmal 108 Meter und noch einmal, bis hin zur Erschöpfung. »Ich bin im Moment ein Kämpfer«, sagt er, »und das ist sehr leicht, denn ich habe keine Alternative.« Gleichzeitig sagt er: »Ohne meinen Vater wäre ich verloren.«
Höchstens fünf Stunden im Monat kann Bence Toth seinen Sohn sehen. Wenn nicht Freunde oder Bences Verlobte die Besuchszeit beanspruchen, fahren er, seine Frau und sein zweiter Sohn Mate jeden Sonntag die hundertsiebzig Kilometer von Starnberg nach Straubing.
Zusammen mit den Angehörigen anderer Häftlinge warten sie dort im Empfangsraum auf den Aufruf der Vollzugsbeamten, um den Metalldetektor zu passieren. Meist herrscht Schweigen. Eltern von Gefangenen wollten ihre Erfahrungen nicht mit den Eltern anderer Gefangener teilen, da sei eine gewisse Isolation erkennbar, offenbar stelle der eine für den anderen nicht die Gesellschaft dar, die man suche. Toth senior vermisst den fehlenden Austausch nicht: »Man muss sowieso allein mit der Situation fertig werden.«
Das Einzige, was er Bence mitbringen darf, ist ein halber Liter Limonade, die er vor dem Besuchsraum für achtzig Cent aus einem Getränkeautomaten löst. Einmal pro Monat kann er überdies beim Gefängnispersonal für einen Euro und zehn Cent eine Tafel Schokolade kaufen, die seinem Sohn dann übergeben wird. Andere Geschenke sind verboten.
Toth sagt, auf dem Hinweg seien er und seine Familie jeweils still und bedrückt, auf dem Nachhauseweg »leichter im Kopf und im Herzen«. Denn Bence gebe ihnen Kraft: »Das ist der Wahnsinn. Nicht wir geben ihm Kraft, sondern er uns.« Toth hat eine Erklärung für die Stärke seines Sohnes: »Seine Unschuld. Er ist stark, weil er die Wahrheit sagt.«
Umgeben von Kameras und den anderen Besuchern sitzen Vater und Sohn einander gegenüber, am Ende des Raumes das Aufsichtspult mit den Monitoren. Manchmal hätten sie es lustig und lachten, sodass die Wächter sich wunderten. Doch Toth bleibt immer vorsichtig: »Alles wird überwacht, aufgezeichnet. Man weiß nie.« Man müsse sich mit einem Wimpernschlag verständigen, sagt er.
Inzwischen darf er mit seinem Sohn in ihrer Muttersprache Ungarisch reden. Als Bence noch in Untersuchungshaft saß, war das verboten. Obwohl der Vater Toth fließend Deutsch spricht, schien es ihm immer, als trenne ihn eine Wand von seinem Sohn. In der ersten Zeit sei er derart schwach und »der Tränen voll gewesen«, dass er die Begegnungen nie überstanden habe, ohne zu weinen: »Ich konnte es nicht ertragen, mit anzusehen, was Bence angetan wird, diese Ungerechtigkeit.« Seine Frau sei in diesen Situationen stärker gewesen, sie habe sich besser unter Kontrolle. Doch Toth schämt sich für seine weiche Seite nicht, im Gegenteil, er betont sie. »Tränen fangen dort an, wo kein Wort mehr reicht, die Liebe auszudrücken«, sagt er. Dank seiner Tränen habe sein Sohn verstanden, wie sehr er mit ihm fühle. »Unser Verhältnis war immer schon sehr gut. Aber seit Bence im Gefängnis sitzt, ist es noch enger geworden.«
Bence Toth, der Sohn, sieht das ebenso. So paradox es sei, er treffe seinen Vater jetzt öfter als vorher und ihre Begegnungen hätten eine andere Qualität, sie seien intensiver geworden. Vor der Inhaftierung habe er ihn vielleicht zweimal im Monat gesprochen, und oft seien sie während der Gespräche abgelenkt gewesen. Jetzt hingegen sitze man sich für eine Stunde konzentriert gegenüber. Unbezahlbar sei auch die Vorfreude: »Meine Familie, meine Freunde, meine Verlobte sind meine Fenster zur Welt.« Sie sind auch sein Spiegel: »Wenn man sich nicht ab und zu beweisen kann, dass man noch in der Lage ist, ein vernünftiges Gespräch mit vernünftigen Menschen zu führen, verliert man das Vertrauen in sich selbst ganz schnell.« Und noch existenzieller: »Dank meiner Besucher weiß ich wieder halbwegs, wer ich bin.«
Die Besuchszeiten, sagt Bence Toth, seien ein Schonraum der Liebe. Da könne er sich anders fühlen als in den Fängen des Gefängnispersonals, das alles daransetze, einen als Nichts zu behandeln. Und anders als in der Gesellschaft der anderen Gefangenen, wo das Grundgefühl immer
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