Liebe, Lust und Lesebrille
Zuneigung nicht auf entsprechende Gegenliebe stößt oder wir verlassen oder »betrogen« wurden. Auch Partner, die sich aufrichtig lieben, tun sich nahezu zwangsläufig manchmal gegenseitig weh. Je mehr sich Partner füreinander öffnen, je mehr sie sich gegenseitig von ihren tiefsten inneren Gefühlen und Bedürfnissen zeigen, desto verletzbarer sind sie. Das vermeintliche Paradoxon lautet also: Liebe ist schön, aber nichts für Feiglinge.
Jemanden zu lieben ist immer an ein gewisses Risiko gekoppelt, verletzt zu werden. Das ist der Grund, warum sich sehr selbstunsichere oder traumatisierte Menschen in der Liebe oft nicht weit vorwagen: Sie fürchten, dass sie die Kränkungen, die ihnen möglicherweise zugefügt werden könnten, nicht verwinden würden. Manchmal fürchten sie das auch zu Recht. Hat z. B. jemand in seiner Herkunftsfamilie keine vertrauens- und liebevollen Bindungen erlebt oder ist er gar in seiner Integrität durch emotionale oder körperliche Übergriffe schwer verletzt worden, hat er auch später oft Mühe, sich einem Partner vertrauensvoll zu öffnen. Sich stark von anderen Menschen abzugrenzen, »dichtzumachen« und möglichst wenig zu fühlen, dient dann verständlicherweise dem Schutz der eigenen beschädigten Seele. Und das ist dann auch gut und richtig so und sollte keinesfalls als Mangel, sondern als überlebensnotwendige Ressource des betroffenen Menschen betrachtet werden.
Die ganz normalen kleineren Kränkungen des Alltags finden oft absichtslos, meistens sogar unbewusst statt. Kommt die Frau gerade stolz vom Friseur zurück und ihr Liebster übersieht glatt ihren nagelneuen rasanten Kurzhaarschnitt samt Rottönung, erlebt sie das vielleicht als Kränkung. Sie fühlt sich möglicherweise ignoriert, nicht wahrgenommen, als weibliches Wesen schlicht nicht geschätzt. Es könnte sein, dass der Mann dieser rothaarigen Dame gerade unter chronischem Stress leidet, der ihm leider zurzeit das Hirn und infolgedessen auch den Blick für seine Frau vernebelt.
Es könnte aber natürlich auch so sein, dass er sich schon seit vielen Monaten insgeheim wünscht, sie möge bitte endlich mal registrieren und angemessen würdigen, wie viel er täglich schuftet, um für die Familie zu sorgen. Stattdessen macht sie ihm Vorwürfe, weil er nicht sofort gesehen hat, dass sie beim Friseur war! Frei nach dem Motto »Wenn du mir nicht das gibst, was ich brauche, geb ich dir auch nicht, was du brauchst!« befänden sich die beiden dann in einer Negativspirale, die aus der gegenseitigen Verweigerung von Anerkennung entstanden ist und sie immer weiter nach unten ziehen wird – wenn sie das Muster nicht erkennen und bewusst durchbrechen.
Insofern können Alltagskonflikte tatsächlich auf der momentanen Befindlichkeit der Partner beruhen oder aber auch auf tiefer liegende Grundprobleme hindeuten, vor allem, wenn sich solche Situationen mit leichten Variationen immer wiederholen (etwa auf das Beziehungsmuster »Ich fühle mich von dir nicht gesehen« – »Ich mich von dir aber auch nicht!«). Die meisten dauerhaften Probleme in Beziehungen entstehen tatsächlich durch sich unbewusst abspulende Muster, die sehr viel mit den Beziehungserfahrungen zu tun haben, die in der Herkunftsfamilie gemacht wurden. (Mehr Infos und Übungen dazu finden Sie in Kapitel 5.)
Im Laufe der Jahre haben also quasi zwangsläufig gegenseitige Kränkungen stattgefunden und ein Paar hat möglicherweise jede Menge Dreck unter den Teppich gekehrt. Jedes Paar sammelt mit der Zeit so seinen Ballast, eine Art Beziehungsmüll, der eigentlich sorgfältig entsorgt werden sollte. Passiert aber kein regelmäßiger Beziehungsputz, so häufen sich die unerledigten Aufgaben und unschönen Erfahrungen. Und irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, zu dem einer von beiden die Rechnung aufmacht und dem anderen die Quittung präsentiert: Wer hat wen wann verletzt, gekränkt oder gar betrogen? Wer war schuld daran? Wer hat mehr in die Beziehung eingebracht und wer sich welchen Entwicklungen widersetzt? Wer hat mehr für den anderen getan? Und wer fühlt sich besser?
Die Zeit, dem Partner die Quittung zu präsentieren, kommt garantiert irgendwann, wenn alte Konflikte nicht richtig bearbeitet wurden. Manchmal kommt die Rache auch auf leisen Sohlen, etwa in Form von Verweigerung, Ignoranz oder Missachtung. Und manchmal kracht es erst dann richtig, wenn eine dritte Person ins Spiel kommt.
Warum unser Ideal der dauerhaften romantischen Liebe zu Enttäuschungen
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