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Liebe oder so

Liebe oder so

Titel: Liebe oder so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Montag
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vor?“
    Mein Hals war wie zugeschnürt, eine ganze Zeitlang ve rgaß ich zu atmen. Ich suchte Maries Augen, aber die waren auf den Bierdeckel geheftet, den sie zwischen ihren Fingern hin- und herdrehte.
    „Das geht schon in Ordnung“, hörte ich mich sagen, „ich red e morgen mal mit dem Vermieter. Notfalls behalte ich die Wohnung eben noch ein paar Monate. Und ihr“ – ich sah dabei noch immer Marie an – „müsst euch ja auch erstmal was Neues suchen. Oder ihr übernehmt die Wohnung, die Miete ist ja nicht hoch. - Marie?“
    Sie schaute kurz hoch und widmete sich dann mit ausdruckslosem Gesicht wieder ihrem Bierdeckel, den sie mit spitzen Fingern in kleine Fetzen riss. Ich ließ sie in Ruhe und bestellte uns noch was zu trinken. Jeder hing seinen Gedanken nach, während in der Küche hinter uns etwas in tausend Teile zersplitterte. Der Kellner stellte das Tablett mit unseren Getränken auf der Theke ab und suchte fluchend nach einem Putzlappen.
    „Na ja, aber ist ja eigentlich nur logisch“, versuchte Caro die Lage zu entschärfen, „du kannst schließlich nicht tä glich Hunderte von Kilometern zur Arbeit fahren.“
    Wir alle am Tisch wussten, dass sie Recht hatte, aber das hieß gar nichts. Manchmal werden die Dinge eben erst durch ihre Einfachheit so richtig kompliziert. Das Leben bietet einem ne Menge Möglichkeiten und Wege, aber an manchen Stellen geht es nur noch geradeaus. Oder zurück, aber dahin will man meistens sowieso nicht. Das hier war so ein Punkt, und uns war klar, dass es nur in eine Richtung laufen konnte.
    Christian versuchte uns auf andere Gedanken zu bringen, er kannte sich ein bisschen aus und zeigte uns die Stadt. Tatsächlich besserte sich unsere Stimmung wieder, obwohl die bevorstehenden Veränderungen unseren Tag überschatteten und dieser Schatten sich schließlich in einen realen Dauerregen verwandelte.
    Wir flüchteten uns in einen nüchternen Zweckbau, den ich für eine Schule hielt. Es war jedoch ein Museum, vor der Tür stand die obligatorische Bronzeplastik. Die Eingangshalle war erbärmlich schmucklos. Es gab einen winzigen Museumsshop, eine Garderobe und die Kassentheke, auf der eine ganze Batterie von Bildschirmen stand.
    „Hey, habt ihr so was schon mal gesehen?“ Marie lief schnurstracks an dem Aufpasser vorbei, der die Tickets kontrollierte.
    „Hallo? Kommen Sie bitte zurück?“, rief er ihr hinterher, aber sie war schon über alle Berge.
    Da der Überraschungseffekt kein zweites Mal ziehen würde, stellten wir uns an der Kasse an und kauften drei Karten.
    „Gehört die Frau zu Ihnen?“, fragte der Kontrolleur , als er die Tickets entwertete.
    „Welche Frau?“
    „Na, die von gerade eben! Die mit Ihnen gesprochen hat.“
    „ Nee. Nie gesehen.“
    William Turner, so weit das Auge reichte . Es war eine unglaubliche Ausstellung, man wusste gar nicht, wo man anfangen sollte. Mit offenen Mündern stolperten wir durch das Museum.
    In Schaukästen lagen Tagebücher, flüchtig hingeworfene Zeichnungen und Skizzen, aber die besten Stücke hingen an der Wand, Gemälde in teilweise gigantischen Ausmaßen. Es gab umwerfende Farbentwicklungen darin. Der Pinselstrich war mal akkurat, beinahe pedantisch, dann wieder verfremdend und irreführend, haarscharf machte er in letzter Sekunde vor der Unkenntlichkeit der Motive Halt.
    „ Die Entwicklung haste noch vor dir“, meinte Christian.
    „Ich? Ich werd demnächst Kinderbücher illustrieren und Hang-Chu, den tödlichen Baby-Ninja zeichnen. Tolle Entwicklung. Aber du, mein Freund, du könntest es schaffen.“
    Er lachte wie über einen besonders gelungenen Scherz.
    Ich fand Marie im zweiten Saal. Sie stand ganz alleine vor einem relativ kleinen Bild und machte den Museumswärter nervös, weil sie aus wenigen Zentimetern Abstand nach winzigen Details zu suchen schien und beinahe mit der Nase anstieß.
    „Guck dir das an“, flüsterte sie aufgeregt, als ich mich näherte. Ohne sich umzudrehen, streckte sie ihre Hand nach mir aus. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass der Wärter uns seine ganze Aufmerksamkeit schenkte.
    Ich sah mir den Turner genau an. Es war nicht unbedingt eins seiner besten Bilder, ein menschenleeres Venedig im Morgengrauen. Die meisten in diesem Saal gefielen mir besser.
    „Schau, hier .“ Marie zeigte auf eine Stelle am Rand, da, wo der Bootsanleger endete und der scheußliche Holzrahmen begann. Tatsächlich, da stand eine Figur am Wasser, ich konnte sie inmitten der flirrenden Farben

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