Liebe, Sex und andere Katastrophen
simple Berührung ihr die Kraft gab, fortzufahren.
»Vor drei Jahren wurde mein zehnjähriger Bruder Alex von einem betrunkenen Mann niedergefahren. Der Mann übersah eine rote Ampel und Alex ging gerade über den Zebrastreifen.« Sie schluckte hart. »Der Fahrer ist abgehauen. Alex verstarb noch an der Unfallstelle.«
Liam verstärkte den Druck seiner Hand und rutschte näher an sie heran.
»Meine Mutter kam damit nicht klar. Sie hat so weitergelebt, als wäre er noch da. Sie hat für ihn gekocht, sein Zimmer sauber gemacht, ihm Kleidung gekauft, Schulsachen besorgt … bis sie eines Tages zusammengebrochen ist und alle Tabletten, die sie finden konnte, in sich hineingestopft hat. Das war der Erste von insgesamt drei Selbstmordversuchen.« Mühsam rang sie um Fassung. »Irgendwann ist sie plötzlich mit einem Messer auf Dad losgegangen – einfach so. Wir standen in der Küche, da nahm sie ein Messer aus dem Holzblock und … das war das zweite Ende unserer kleinen Familie. Mein Vater wurde in die Notaufnahme gebracht und meine Mutter in die Psychiatrie.«
Schweigend legte er den Arm um sie. Nach kurzem Zögern lehnte sie den Kopf an seine Schulter.
»Wir wissen nicht, ob sie sich je wieder erholen wird. Aber Dad gibt die Hoffnung nicht auf. Ich glaube, das ist das Schlimmste für mich. Die Vorstellung, dass er vergeblich hofft und hofft und mit sechzig Jahren immer noch einsam und allein in dem Haus lebt, während ich schon längst eine eigene Familie habe …«
Sie brach ab und presste die Lippen zusammen.
»Wenn er die Sache dadurch leichter überwinden kann, ist es besser, wenn du ihn einfach lässt. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, um mit Problemen fertigzuwerden.«
Sie war unendlich dankbar dafür, dass er nicht so etwas Banales wie es tut mir leid oder das ist ja schrecklich sagte.
»Seid ihr deshalb hergezogen? Weil hier niemand Bescheid weiß?«
»Zum Teil. Aber hauptsächlich, weil Dad hier die Stelle als Arzt bekommen hat. Vorher hat er in einem Krankenhaus gearbeitet und war selten zu Hause. Das hat er sich immer zum Vorwurf gemacht. Obwohl er genau weiß, dass es nicht seine Schuld war. Ich meine, alles. Alex’ Tod, Moms Krankheit, und dass ich seitdem ganz wenig Schlaf brauche. Kurz nach Alex’ Tod bekam ich Albträume und ich fürchtete mich jeden Abend davor, einzuschlafen. Also hielt ich mich wach, solange ich konnte. Inzwischen reichen mir fünf Stunden Schlaf.«
Er wandte leicht den Kopf und berührte ihre Stirn mit den Lippen.
»Ein oder zwei Mal im Monat dürfen wir Mom besuchen. Je nachdem, in welcher Verfassung sie ist. Manchmal hat sie klare Momente und erkennt uns, aber oft ist sie völlig abwesend und lebt in einer Scheinwelt. Das … das tut weh. Die Klinik ist nur zwei Stunden von hier entfernt, aber Dad und ich sind nach diesen Besuchen immer völlig fertig. Während der Heimfahrt sprechen wir nicht miteinander und auch zu Hause verdrücken wir uns gleich in unsere Zimmer. Die Stimmung ist dann auf dem Nullpunkt. Aber irgendwann …«
»Wird alles wieder gut«, vollendete er den Satz.
»Darauf hoffen wir.«
»Ich würde deinen Dad gern kennenlernen.«
»Du kannst mich ja besuchen kommen.«
»Ich nehme dich beim Wort.«
Über ihnen brauten sich immer mehr Gewitterwolken zusammen. Aber sie fühlte sich an Liams Schulter so geborgen wie schon lange nicht mehr.
Mom, das ist Liam. Mein Freund.
»Das Skateboard, mit dem du fährst, gehört das deinem Bruder?«
»Ja. Seit der Unfall passiert ist, bin ich nicht mehr gefahren. Aber wir haben die Sachen, die ihm am wichtigsten waren, in einen Karton gepackt und mitgenommen. Dazu gehört auch das Skateboard.«
»Ist ein cooles Teil. Wäre schade, wenn du es nicht verwenden würdest.«
»Ja, es ist ein Teil von Alex.«
Er schob seine Finger in ihre.
O Liam … du hast mir so gefehlt.
»Du hast mich neulich gefragt, warum ich so spät noch unterwegs bin.«
»Weil du an Schlafstörungen leidest«, erinnerte sie sich.
»Ja, aber das war gelogen. Meine Mutter hat einen neuen Freund und mit dem komm ich nicht klar. Deshalb verdrücke ich mich jedes Mal, wenn er bei uns auftaucht. Was inzwischen fast täglich der Fall ist. Ich befürchte, dass er bald ganz bei uns einziehen wird.«
»Wieso magst du ihn nicht?«
»Er stand nur einen Tag, nachdem meine Eltern geschieden waren, an der Tür, grinste mich blöd an und meinte, wir würden ab jetzt gute Freunde werden müssen, da er von nun an öfters herkommen und meine
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