Liebe Unbekannte (German Edition)
Ich spürte, wie ich errötete.
„Hallo, bleib ruhig sitzen“, sagte sie und legte mir den verbesserten Leihzettel hin. „Setz dich bitte wieder … Ich habe dich gestern auf dem Balkon gesehen.“
„Entschuldige“, sagte ich zusammenfassend für die ganze Szene, was blöd und überflüssig war.
„Wieso hast du dich nicht hingekniet? Für den Kerl wäre es so wichtig gewesen.“
„Ich weiß nicht.“
„Du hattest bestimmt recht. Ich habe nur den Schluss gehört.“
Ich schüttelte den Kopf. Sie holte ein Buch aus der Tasche. Ein bisschen enttäuscht stellte ich fest, dass es sich um eine kleine, schwarze Bibel handelte. Ich ahnte, was nun kommen würde.
„Ich fände es trotzdem schön, wenn du etwas lesen würdest.“
Jetzt wird sie versuchen, mich zu bekehren, dachte ich. Ich hatte mehr erwartet, aber halb so schlimm, das wäre auch gut, ich würde ihr zuhören. Sie suchte langsam. Sie blätterte, befeuchtete den Finger mit der Zunge.
„Nur eine kleine Passage des heiligen Paul, warte, warte, gleich, wo ist sie denn …“
Jetzt wusste ich auch, dass das
Hohelied der Liebe
folgen würde. Was sonst?
„Da ist es, bitte.“
Sie legte das Buch, beim
Hohelied der Liebe
geöffnet, mit der Schrift zu mir auf den Tisch. Sie legte es mit beiden Händen hin, mit einer sorgfältigen, zeremoniellen und weichen Bewegung und schob es zu mir. Dann legte sie die Fingerkuppe des Mittelfingers auf das auf meiner Seite liegende Ende der Vertiefung zwischen den beiden Buchseiten und indem sie die anderen Finger leicht über dem Buch hielt, zog sie einen Finger ganz leicht die Vertiefung entlang, ließ ihn schließlich zur Anfangszeile vom
Hohelied der Liebe
wandern und einen Augenblick lang dort ruhen.
„Hieristes“, flüsterte sie. „Bitte, lies es.“
Sie klopfte weich auf die Anfangszeile des
Hohelieds der Liebe
und nahm die Hand vom Buch, ja, sie nahm sie gar nicht weg, es war eher, als würde die Hand wegfliegen.
Zwischen dem Moment, in dem sie das
Hohelied
fand und jenem, in dem die Hand wegflog, vergingen vier Sekunden. (Zu Hause maß ich die Zeit mehrmals nach.) Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich vermutete, dass dies erotische Bewegungen waren, ich empfand sie jedoch als zu schnell. Unmöglich, dachte ich, ausgeschlossen. Das war nur Zufall! Dabei hatte sie nur nicht eindeutiger sein wollen. Sie dachte, man müsse mit mir behutsam umgehen. Sie hatte mich zu dem Zeitpunkt bereits seit einer Weile beobachtet, da sie mich für engelsgleich hielt. Ich wirkte auch unerfahren. Sie wollte mich nicht überrollen. Und wusste selbst nicht, was sie von mir wollte. Sie empfand sich mir unwürdig, da sie sich nicht für engelsgleich hielt. Der Grund, weshalb sie mich für engelsgleich hielt, war, dass mit Ausnahme von mir so gut wie jeder Mann in der Bibliothek ihr gegenüber Annäherungsversuche gemacht hatte. Dass ich am Tag zuvor auf dem Balkon herumgebrüllt hatte, bestärkte sie nur noch in der Annahme, ich sei engelsgleich oder müsse es zumindest vor Kurzem noch gewesen sein, denn zu dem Zeitpunkt dachte sie bereits, die Welt sei böse und verderbe jeden, vor allem die Engel. Deshalb hatte sie nicht aufdringlicher sein wollen, sondern hatte nur – wie zufällig – mit der Fingerkuppe übers Buch gestrichen, denn erotische Bewegungen lagen ihr im Blut.
„Das ist meine Lieblingspassage aus der Bibel.“
Das Buch war keine Bibel, sondern eine wunderschöne, schwarz gebundene bibliophile Attila-József-Ausgabe aus der Zeit, als die kommunistische Kulturpolitik Gottes Sohn durch Attila József zu ersetzen versuchte. Das
Hohelied der Liebe
war mit der Hand auf die leere Seite nach der ersten Strophe der
Drei Könige in Bethlehem
geschrieben, auf Seite dreihunderteins, wo die drei weiteren Strophen wegen eines Druckfehlers fehlten. Mit Bleistift und kleinen, aber männlichen, faserigen Buchstaben:
Wenn du mit Menschen- und mit Engelzungen redetest und hättest die Liebe nicht, so wärst du ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn du prophetisch reden könntest und wüsstest alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hättest allen Glauben, so dass du Berge versetzen könntest, und hättest die Liebe nicht, so wärst du nichts. Und wenn du alle deine Habe den Armen gäbest und ließest deinen Leib verbrennen, und hättest die Liebe nicht, so wäre dir’s nichts nütze
.
Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht
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