Liebe Unbekannte (German Edition)
der Wahrscheinlichkeit herumzureiten, da er inzwischen für sich beschlossen hatte: Falls ein Wunder geschehen sollte, würde er mir Emma gönnen.
Es wurde still auf dem Felsen.
„Dann lasst uns brüllen!“, sagte Gábor, der den Höhepunkt des Abends nicht erwarten konnte, Kornél und ich waren jedoch noch nicht in der entsprechenden Verfassung. Wir dachten beide an Emma.
„Ich muss mich sehr über dich wundern“, sagte Kornél. „Früher hattest du ein gutes Gespür für den Rhythmus der Dinge.“
„Ich?“, fragte Gábor verwundert.
„Also ich bestimmt nicht.“
„Nenn mir ein Beispiel.“
„Früher wusstest du, wann wofür die Zeit war. Früher hast du wenigstens nicht nachgedacht, bevor du etwas gesagt hast.“
Das war ein verstecktes Lob. Nach kurzem Überlegen entdeckte Gábor das Lob darin, dann wurde es wieder still auf dem Felsen. Wir dachten alle drei an den Bibliotheksball des Vorjahres. Kornél und ich dachten an Emma, Gábor dachte an Schwesterchen.
Nachdem er und der andere kräftige Bursche die Tanne aufgestellt hatten, fiel Gábor auf, dass Schwesterchen in der Ecke des Saals saß, die Knie unter den Mantel gezogen und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Er fragte sich, was sie überhaupt da machte. Und schon stand er neben ihr.
„Du wartest doch auf Tamás Krizsán, nicht wahr?“
Gábor hatte dies und jenes über Schwesterchen gehört, wusste jedoch nichts Genaues, nur, was man sich in der Bibliothek über sie erzählte, dass sie von jedem
Schwesterchen
genannt wurde, depressiv war und aus Italien zurückgekommen war. Dass sie etwas mit mir zu tun haben könnte, glaubte er nicht. Von Tante Gizella hatte er jedoch gehört, dass wir die Bibliothek gemeinsam verlassen hatten.
Schwesterchen antwortete mit einem Kopfschütteln, was Gábor zunächst reichte. Die Unterhaltung musste jedoch irgendwie abgeschlossen werden, weshalb er noch für einen Augenblick da blieb. Das war nicht umsonst, denn Schwesterchen bestärkte einige Sekunden später mündlich das Kopfschütteln.
„Ich sitze nur da.“
„Ich verstehe“, sagte Gábor.
„Hättet ihr das nicht gebrauchen können?“, fragte sie und zeigte unter den Stuhl, wo die Axt lag.
„Nein“, sagte er und zog das Bajonett hervor. Er warf es in die Luft, es machte zwei Umdrehungen, und Gábor fing es geschickt auf. Die Aufführung entlockte ihr ein kleines Lächeln.
„Er kommt später, hat er gesagt.“
Nun setzte sich Gábor beruhigt in die andere Ecke des Saals zu der Gruppe um Gyuri Keszi zurück: Offenbar würde ich wieder auftauchen.
Inzwischen war ich zu Hause angekommen.
Die Überraschung meiner Schwestern erwartete mich in meinem Zimmer auf der Stuhllehne: ein schönes, altes, in England hergestelltes weißes Hemd aus einem Kommissionsladen. Erika hatte ein Auge für Kleidung und Gerda kannte sich damit aus, wer was gerne trug: Bei mir kamen nur gebrauchte, oft gewaschene, alte Kleidungsstücke infrage. Eine Krawatte war ausgeschlossen, ich knöpfte stattdessen den obersten Knopf des Hemdes zu. Mutter hatte früher alte Bauern gesehen, die so zur Messe gingen und machte sich auch ein wenig Sorgen, dass man mich für einen Bauern halten würde. Gerda erklärte ihr jedoch, dass sich junge Männer mit Geschmack in ganz Westeuropa so kleideten. Sie war die Einzige aus der Familie, die schon in Westeuropa gewesen war, in Österreich, anlässlich eines Filmdrehs.
„Dann ist es wohl so, ihr wisst das sicherlich besser“, sagte Mutter, aber sie und Vater hatten trotzdem ihre Meinung über das weiße Hemd mit dem zugeknöpften Kragen: So etwas trugen nur alte Bauern.
Die Initiative kam von Erika: Tomi sollte doch endlich mal gut aussehen! Vor ein paar Wochen hatte sie – mit der Anweisung: „Und du merkst jetzt gar nicht, was ich mache!“ – Maß von meinem Halsumfang genommen. Ich merkte gar nicht, was sie machte.
„Die Kleidung ist nicht das Entscheidende bei so etwas“, sagte Gerda, eröffnete jedoch keine Diskussion darüber, weil sie wusste, dass es vielleicht doch eines der entscheidenden Dinge war. Sie bat Erika lediglich darum, es solle nicht darauf hinauslaufen, dass ich zu Weihnachten bereits mit Erikas Freundin, Csilla Budai, ging. Sie hegte den starken Verdacht, dass Erika die Idee, mir ein Hemd zu kaufen, in erster Linie gar nicht meinetwegen, sondern wegen Csilla Budai gekommen war.
„Wie kannst du mir so etwas unterstellen“, stritt Erika den Vorwurf ab, eröffnete jedoch keine Diskussion, da
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