Liebe Unbekannte (German Edition)
Gedichte gelesen hatten. „Du wirst es nicht glauben, ich habe mich im Lager auch auf diesen Umschlag gesetzt. Es hätte nur noch gefehlt, mir eine Erkältung einzufangen.“
„Du findest eine Nelke und guckst gar nicht nach, was darunter liegt?“
„Unter der ersten Nelke lag nichts. Dabei suchte ich da noch nach den Pralinen. Ich dachte, eine Schachtel Pralinen gäbe es auch dazu, du verstehst schon. Aber am nächsten Tag hatte ich mich bereits daran gewöhnt, nun jeden Tag eine einzelne Nelke zu bekommen.“
Gábor fiel ein, dass er die Nelke bei sich hatte. Er holte sie aus der Tasche und gab sie Emőke. Dann holte er noch eine aus der Tasche und gab ihr diese ebenfalls. Gábor und Emőke hatten bereits zwei Tage vorher festgestellt, dass die Nelken auf dem Boden nur von mir stammen konnten. Aber von Gedichten und einem Brief war bisher keine Rede gewesen. Emőke Széles’ Sympathie hatte ich sofort gewonnen.
„Mensch, er ist in mich verliebt!“, flüsterte sie. „Deshalb ist der Arme so schnell gegangen.“
Jetzt, da in ihr eigenes Schicksal vorerst eine gewisse Ordnung gekommen war (auf jeden Fall bis zu Kornéls vollständigem Erwachen, was die beiden
Parkán
-Experten, Tabaki und Brüll, erst für den nächsten oder übernächsten Tag voraussagten), beschäftigte Emőke Széles sogleich die Zukunft der ihr Nahestehenden. Als Erstes wollte sie sich rasch um Emmas Schicksal kümmern, und der geheimnisvolle Urheber der Gedichte hatte ihre Fantasie angeregt. Ein Dichter, das wäre etwas für Emma.
„Die Arme ist talentfixiert. Und schönheitsfixiert.“
Sie dachte an mich zurück und war der Ansicht, dass ich eigentlich ganz passabel aussah. Sie befragte Gábor, was über mich zu wissen sei. Dieser wollte schwungvoll loslegen, verstummte dann jedoch.
„Verdammt“, sagte er zu Emőke Széles. „Wo ist die Schlinge?“
„Um Brülls Hals. Wozu brauchst du die?“
„Es sieht ganz danach aus, als würde mein Gehirn tatsächlich den Weg des Zerfalls betreten“, erklärte Gábor. „Wegen des Sprungs. Ich werde nicht abwarten, bis ich völlig abbaue. Ich werde schon wissen, was zu tun ist!“
Er hielt sich das Bajonett an die Kehle.
„Du hast schon völlig abgebaut, wenn du so einen Stuss redest. Deine Stunde hat geschlagen, Gábor.“
„Aber ich kann mich an kein einziges Wort erinnern, das Tomi gesagt hat!“
„Wahrscheinlich hast du den Armen nicht zu Wort kommen lassen“, sagte Emőke Széles, womit das Rätsel gelöst war. „Deshalb erinnerst du dich nicht. Pass auf, wir werden sie heute Abend einander vorstellen. Schließlich ist er Dichter.“
„Na und“, sagte Gábor und verzog die Miene, denn er war zwar kein Dichter, aber wenn es darum ging, wen Emőke mit ihrer Freundin verkuppeln sollte, hätte sie ruhig auch an ihn denken können.
„Du hast angeblich eine Freundin, Timi, wenn ich mich richtig entsinne, oder?“
„Aber wo?“, fragte Gábor verzweifelt.
„Bring uns Tamás zurück! Gut?“
Gábor überwand seine Gekränktheit und ging los, um mich zu suchen. Deshalb tauchte er zu zeitig in der Bródy auf. Er glaubte jedoch bereits damals nicht wirklich daran, dass Emőke Széles’ Plan aufgehen würde. Und als er sich elf Monate später dann auf dem
Fels der Idioten
meine Geschichte angehört hatte – über Emma, die mit sechs Jahren furchtbar krank von ihrem Großvater aus Versehen zu uns gebracht wurde –, sah er mich mitleidig an. Oder eher teilnahmsvoll. Und auch neidisch. Insofern sein Gesichtsausdruck im Dunkeln des Káler Waldes überhaupt zu erkennen war. Auf jeden Fall hat die Geschichte ihn gefesselt. Und Kornél natürlich ebenfalls.
„Tamás, davon brauchst du nicht einmal zu träumen“, sagte Gábor. „Sagt dir der Ausdruck
statistische Wahrscheinlichkeit
etwas? Wenn jemand mit sechs Jahren die große Liebe nach Hause geliefert bekommt, kann er in den nächsten, sagen wir, zweihunderttausend Jahren getrost davon ausgehen, nicht mehr in ihre Nähe zu kommen. Bei dir wird es eher mit der Königin von England klappen als mit dieser Frau. Kein Hawking und kein Chaos dieser Welt …“
„Tamás spricht jetzt vom Wunder und nicht von Hawking“, sagte Kornél ungeduldig und dachte darüber nach, ob er mir (falls ein Wunder geschehen sollte) Emma gönnen würde. „Zumindest würde er davon sprechen, wenn du ihn lassen würdest. Und Wunder haben nichts mit Wahrscheinlichkeit zu tun.“
Und dann bedeutete er Gábor, er solle aufhören, auf dem Thema
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