Liebe Unbekannte (German Edition)
wenn die Sache richtig schlimm ausgeht, hat sie eine gewisse unbedachte Heiterkeit an sich. Diese Stimme hatte ich damals bereits viele Hundert Male gehört und seitdem bestimmt mehrere Tausend Male, dabei war es mir vergönnt, im ruhigsten und sichersten Winkel der Geschichte zu leben: in den vergangenen Jahrzehnten, in Ungarn. Ich kenne diese Stimme. Es ist eine Unheil verkündende Stimme, jedoch weiß ich, dass sie zur Welt der Menschen gehört, sie ist wie ein Leberfleck, den man im Auge behalten sollte, da er entarten, zu wuchern beginnen und alles zerstören könnte. Trotzdem könnte ich nicht behaupten, die Stimme nicht zu mögen. Wenn sie sich nicht hin und wieder melden würde, würde sie mir fehlen, so wie wenn es im Wald zu still ist: Die Vögel singen nicht. Werden die Singvögel etwa gejagt oder naht ein Unwetter? Die Luft ist schwül. Irgendetwas ist aus dem Gleichgewicht geraten. Was ist bloß passiert? Hörte ich diese Stimme sehr lange nicht, machte es mir Sorgen: Was werde stattdessen passieren, wo und wann? Irgendetwas sei nicht in Ordnung, würde ich denken. Oder dass ich taub geworden sei. Mit einem Wort, sie würde mir fehlen. Diese Stimme war es, die sich auch diesmal meldete, aus den hinteren Reihen.
„Ja, kann ich. Ich war nur am Ende der dritten Klasse nicht in der Schule. Also fange ich an, die Geschichte vorzulesen und auf der zweiten Seite taucht der Schakal auf. Tabaki. Wieso hat mir das bisher niemand gesagt? Ich habe immer gedacht, der Name habe mit einem Kiosk zu tun. Das habe ich nur erzählt, damit ihr wisst, dass ich ab jetzt nicht mehr Tabaki bin, und ihr Zeit habt, darüber nachzudenken, ob ihr heiraten wollt. Wenn, dann müsstet ihr es jetzt machen, die Konstellation der Sterne ist ideal. Ich glaube, wir kommen bald ins Zeitalter der Fische.“
„Das lassen wir gerade hinter uns, aber egal“, rief Gábor.
„Verlieren wir uns nicht in Details“, sagte Tabaki. „Will noch jemand heiraten, oder sollen wir die alten Songs spielen?“
„Spielt die alten Songs!“
„Wir haben keine alten Songs, das ist es ja gerade, was ich sage. Das ist das Problem mit der Rockmusik. Der Tod jeder Band ist, wenn sie anfangen, alte Songs zu haben. Wir haben mit dieser schädlichen Praxis gebrochen. Das ist die Band
Nimmermehr
, und wir haben keine alten Songs. Ganz zu schweigen von den neuen, denn die gibt es noch nicht.“
„Schert euch von der Bühne.“
Es stand jedoch bereits ein neues Paar auf der Bühne, das von Tabaki auch sogleich getraut wurde. Kornél und Emőke Széles waren inzwischen heruntergeklettert und hatten sich zurück neben Emma und den jungen namenlosen Psychiater gestellt.
„Wir gratulieren den Frischvermählten“, sagte der junge namenlose Psychiater, auch in Emmas Namen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass diese plötzlich vom Teufel geritten wurde. Die erste Person Plural. Sie schenkte ihrem Liebsten, dem jungen namenlosen Psychiater, ein zauberhaftes Lächeln.
„Hm?“, sagte sie und deutete in Richtung der Bühne, wo bereits eine weitere Trauung vollzogen wurde. „Wir sollten auch da sein, nicht?“
Der junge namenlose Psychiater schüttelte den Kopf. Er befürchtete, sie wolle dort auf der Bühne mit ihm Schluss machen. Er wusste, dass sie es fertigbringen würde. Denn Emma hat konkrete Vorstellungen von einer großen Liebe. Eine große Liebe muss auf der Bühne vor Publikum beginnen und auch dort enden. Vorausgesetzt, es handelt sich um eine wirklich große Liebe. Die Liebenden sollten nicht nachdenken, sondern sofort, vor aller Augen übereinander herfallen, denn je mehr Zeugen es gebe, desto besser sei es, sollten ihnen doch die Augen aus dem Kopf fallen! Und wenn die Liebe vorbei sei, müsse man einen riesigen Aufstand machen, vor möglichst vielen Leuten. Einen hässlichen und beschämenden. Wer darüber lachen wolle, solle lachen, wer sich die Ohren zuhalten wolle, solle sich die Ohren zuhalten und wer sie aus seinem Haus werfen wolle, solle das ruhig tun. Dann sei nämlich ohnehin schon alles egal und wenn alles egal sei, solle es richtig egal sein, so dass man nichts rückgängig machen könne!
„Heute würde ich darauf lieber verzichten“, sagte der junge namenlose Psychiater gelassen.
Er musste Stärke zeigen. Und er zeigte sie. Er war immer ruhig, oder fast immer, und niemals unaufmerksam. Er lud Gäste zum Abendessen ein, kochte für sie und schenkte ihnen großzügig seine Grafiken, von denen er unzählige in der Wohnung
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