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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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dort hingestellt hatte. Er blickte über die Schulter, erhob sich und tat einen Schritt auf die Kirche zu. Bec kam heraus, und er blieb stehen, und sie ging auf ihn zu. Sie behielt die Hände in den Taschen.
    Er streckte die Hand nach ihrer Schulter aus und machte Anstalten, sie zu küssen, doch sie trat zurück. Eine unbekannte Härte in Becs Augen ließ Ritchie zögern, nach dem unbeschädigten Grabstein zu fragen.
    »Ich kann daran keinen Schaden erkennen«, sagte er. Er deutete hinter sich auf das Grab und presste die Hände zusammen. Er bemühte sich um einen munteren Ton. Was bei Bec ankam, war ein ängstliches Grinsen, und sie fragte sich, ob ein Instinkt ihn veranlasste, um Gnade zu bitten, noch bevor er wusste, was sie sagen würde.
    »Kannst du dich erinnern, wer dort begraben liegt?«, sagte sie.
    Vielleicht, dachte Ritchie, hat sie ja einen Nervenzusammenbruch gehabt. Er fragte sie, wie es ihr gehe.
    »Du hast die Frage nicht beantwortet«, sagte Bec.
    »Sei nicht albern«, sagte Ritchie und versuchte noch einmal, sie anzufassen. Sie entwand sich ihm, aber behielt die Augen auf ihn gerichtet.
    Er sagte seufzend: »Dad liegt dort begraben.«
    Vor ihrer Erwiderung schien es Bec, als hätte sie gegen ihren Bruder ein ganzes Arsenal von Wörtern aufzubieten, die ebenso grausam wie gerecht waren. In dem Moment, als sie den Mund aufmachte, sprach sie blind aus, was ihr auf der Zunge lag. Sie sagte: »Du hast keine Ehre.«
    Sie fand, dass sie ein schwaches Wort gewählt hatte, um ihn anzugreifen, ein obskures, altmodisches Wort. Im England des einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte die Ehre keinen Platz. Doch bei den vier Worten wurde es Ritchie dunkel vor Augen, und eine Faust voll kalter Nadeln presste sich ihm ins Herz. Die Worte aus dem Gedicht, das der Henker ihres Vaters geschrieben hatte, fielen ihm ein, und er verstand sie: »Die Knarre spritzt zum Himmel.«
    »Sag mir, was das heißen soll«, sagte er. Die Kälte seiner Stimme und seiner Augen erinnerten Bec an Vals Verwandlung in der Nacht ihrer Trennung.
    »Du hast mich an Val verraten«, sagte Bec.
    »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Ritchie.
    »Du hast der Moral Foundation erzählt, dass ich mit Alex’ Bruder geschlafen habe.«
    »Jetzt hör mal zu«, sagte Ritchie langsam, und mit übertriebener Betonung richtete er den Finger auf Bec, »ich habe dich nicht bei der Moral Foundation denunziert. Nie im Leben würde ich das meiner eigenen Schwester antun, das ist eine infame Unterstellung, und ich will wissen, wer mich bei dir verleumdet hat.«
    »Wie kannst du mir so ins Gesicht lügen?«, sagte Bec. »Bist du schon als Lügner auf die Welt gekommen, oder bist erst einer geworden?«
    »Was gibt dir das Recht, so mit mir zu reden? Hast du nicht gehört, was ich gerade gesagt habe? Ich habe dich nicht verpfiffen. Warum musst du dich wie eine Schlampe aufführen, scheinheilig und selbstgerecht?«
    Bec wich einen Schritt zurück, als wäre sie geschlagen worden.
    »Na?«, sagte Ritchie. Er wollte sich seine Überraschung, dass er seine Schwester eine Schlampe genannt hatte, nicht anmerken lassen und fragte sich, wie er das wieder ungesagt machen konnte. »Wer verbreitet diese Lügen über mich?«
    »So hast du mich noch nie genannt«, sagte Bec. Sie deutete auf den Grabstein hinter Ritchie, und sein Blick folgte ihrem Finger. »Ich sehe Dads Namen vor mir, genau dort, während du mich so nennst.«
    »Ich dulde nicht, dass du diese Verleumdung verbreitest.«
    »Hör bitte auf«, sagte Bec und ließ ihre schmerzende Stirn in die Hand sinken. Die Tränen kullerten ihr zwischen den Fingern hindurch. »Ich weiß, dass du lügst. Ich weiß, was du getan hast.« Sie sah ihn an. »Ich habe dich gehört. Ich habe jedes Wort gehört. Val hat mir das Band vorgespielt. Ich habe gehört, wie du die Nummer gewählt und den Code eingegeben und Val erzählt hast, dass ich mit Dougie geschlafen habe, und auch, dass du keine Bilder hast. Ich habe gehört, wie du zu Val gesagt hast, er hätte dich gefoltert. Ich habe dich weinen gehört.«
    Ritchie starrte seine Schwester an, bis ihre Kontur flammte und flackerte. »Val«, flüsterte er. Wie gern er ihn umbringen würde! Er sah förmlich, wie er Val misshandeln würde, wenn er ihn jetzt vor sich hätte, wie er ihn an den Ohren packen und das Gesicht auf sein hochschnellendes Knie schmettern würde, dass ihm die Nase brach; wie er ihm dann die Finger in die Augen krallen und ihn auf den Friedhofsrasen schleudern

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